Politik

Ärger um Pandemieende in Baden-Württemberg

  • Freitag, 25. März 2022
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen, l), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen), Sozial- und Integrationsminister von Baden-Württemberg. /picture alliance, Marijan Murat
Winfried Kretschmann (Grüne, l), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und Manfred Lucha (Grüne), Sozial- und Integrationsminister von Baden-Württemberg. /picture alliance, Marijan Murat

Stuttgart – Mit seiner Forderung nach einem baldigen Ende der pandemischen Lage hat sich Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) eine blutige Nase geholt. Regierungschef Winfried Kretschmann distanzierte sich gestern Abend von seinem Minister.

Auf die Frage, ob Luchas Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit Kretschmann abgestimmt war, sagte ein Regierungssprecher in Stuttgart: „Nein, war er nicht.“ Lucha ruderte am Abend teilweise zurück. Massiven Druck bekam der Minister dem Vernehmen nach auch von den Chefs der Ko­alitionsfraktionen Grünen und CDU, Andreas Schwarz und Manuel Hagel.

Lucha wollte auf Eigenverantwortung setzen

Zuvor hatte der Grünen-Minister in einem Schreiben an Lauterbach gefordert, der Bund solle Ende April - also nach den Osterferien – den Wechsel von der pandemischen in die endemische Phase einläuten.

Lucha forderte damit einen Strategiewechsel für Ende April, bei dem es keine Tests und keine vorge­schrie­bene Quarantäne mehr gegeben hätte. Er schrieb unter anderem: „Das Verhalten sollte vielmehr in die Eigenverantwortung gegeben werden, für Erkrankte gilt weiterhin die Aufforderung, zu Hause zu bleiben.“

Ministerium bedauert „irreführenden Eindruck“ des Schreibens

Am Abend erklärte sein Sprecher, die Inhalte des Schreibens hätten „offenbar einen falschen und irre­führenden Eindruck vermittelt“. Er ergänzte: „Wir erklären die Pandemie explizit nicht für beendet.“ Und: Es gibt keinen Strategiewechsel bei den Schutzmaßnahmen.

Es sei dem Minister vor allem darum gegangen, die Gesundheitsämter von unnötigen Aufgaben zu ent­lasten und somit einen Wechsel beim Coronamanagement anzuregen. „Dabei ging es um einen Impuls für eine gemeinsame mittel- und langfristige Perspektive zu einem Zeitpunkt, ab dem die Pandemie sich deutlich abschwächt.“

Gesundheitsämter laufen nur noch hinterher

In dem Brief an Lauterbach schrieb Lucha, die Gesundheitsämter hätten wegen der rasanten Ausbreitung der Omikron-Variante keinen Einfluss mehr auf das Ausbruchsgeschehen. Kontaktpersonen hätten die Infektion oft schon weitergegeben, bevor ihr Status bekannt werde und die Quarantäne greifen könne.

„Derzeit werden durch die Gesundheitsämter mit enormem Aufwand vielfach Meldedaten asympto­mati­scher Personen erfasst sowie Mehrfachmeldungen durch „Freitestversuche“ symptomatischer Personen – aus denen keine weiteren Maßnahmen folgen und die das Infektionsgeschehen zudem zunehmend un­zureichend abbilden“, schrieb der Minister.

Zudem seien viele Menschen als Geimpfte oder Genesene von einer Quarantäne befreit. Wenn die Ge­sund­heitsämter von diesen überflüssigen Aufgaben entlastet würden, könnten sie sich darauf konzen­trieren, Pflegeheime und Krankenhäuser zu beraten, um größere Ausbrüche zu vermeiden oder besser unter Kontrolle zu bringen, erklärte Lucha. Das Infektionsgeschehen solle künftig vor allem mit Hilfe von Meldedaten der Ärzte überwacht.

Liberale wundern sich über „Gesinnungswandel“

Die FDP hatte den Vorstoß begrüßt, sich aber auch verwundert gezeigt: Während Kretschmann sich beim Bund beschwere, es fehlten die Instrumente im Kampf gegen die Pandemie, wolle Lucha das Coronavirus nun wie jedes andere Grippevirus behandeln, sagte Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke und fragte: „Ist bes­se­re Erkenntnis oder schiere Resignation der Grund für den plötzlichen Gesinnungswandel?“ Er for­derte das Land auf, die Regeln für die Quarantäne selbst abzuschaffen, dazu brauche es den Bund nicht.

Fast 40.000 Neuinfektionen an einem Tag

Zuletzt hatte Kretschmann immer wieder betont, die Pandemie sei noch nicht zu Ende. Der Grünen-Poli­ti­ker zeigte sich verärgert darüber, dass die Ampel-Bundesregierung nahezu alle Coronaschutz­maßnah­men auslaufen lassen will. Er verwies dabei auf die hohen Inzidenzen.

Zuletzt gab es im Südwesten fast 40.000 Neuinfektionen an einem Tag, das entspricht einer 7-Tage-Inzi­denz von über 1.900. Wegen der hohen Dunkelziffer dürfte die Inzidenz im Südwesten deutlich höher liegen. Allerdings sind die Intensivstationen der Kliniken bei weiten nicht mehr so belastet, weil die COVID-19-Erkrankung bei Omikron im Vergleich zur Deltavariante in der Regel milder verläuft.

Landkreise wollen „Datenfriedhöfe“ vermeiden

Für seinen Brief hatte Lucha Unterstützung vom Landkreistag erhalten. „Es ist wichtig und notwendig, die Berliner Politik mit den fachlichen Realitäten von vor Ort zu konfrontieren“, sagte Präsident Joachim Walter.

„So macht es beispielsweise keinen Sinn, durch die tausendfache Meldung von positiven Tester­gebnissen beim Robert Koch-Institut Datenfriedhöfe zu schaffen, ohne dass daraus irgendwelche Konse­quenzen gezogen werden.“

Impfangebot wird vorläufig stark eingedampft

Das Impfangebot soll Ende nächster Woche wegen fehlender Nachfrage massiv heruntergefahren wer­den. Zunächst soll es ab 1. April nur noch ein mobiles Impfteam und einen Stützpunkt pro Stadt- und Landkreis geben. Nach den Fraktionen von Grünen und CDU stimmte auch die Regierung dem Vorschlag des Sozialministeriums zu.

Bisher hatte es etwa 350 mobile Teams und 135 Impfstützpunkte gegeben, die vom Land finanziert wur­den. Die Koalition ist überzeugt, dass es mit der verbleibenden Struktur möglich sei, flexibel zu reagieren, wenn sich die Pandemie dramatisch zuspitzen sollte.

Mit dem verschlankten Impfkonzept will die Regierung die enormen Kosten drücken. Das neue Konzept soll bis Ende September knapp 55 Millionen Euro kosten. Das Geld soll aus der Rücklage für Haushalts­risiken kommen. Das Impfen und Testen hat das Land im vergangenen Jahr mehrere Hundertmillionen Euro gekostet.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte heute in Berlin, er werde die Anregung von Lucha nicht aufgreifen. Er schätze Herrn Lucha sehr und man arbeite gut zusammen, sagte Lauterbach heute vor Journalisten. Der Brief sei aber wohl in einem Moment der Frustration geschrieben worden.

dpa

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