Politik

„Der Kippunkt des Systems wird zwischen 2035 und 2050 sein“

  • Freitag, 16. Mai 2025

Berlin – Der demografische Rahmen verschiebt sich in Deutschland immer stärker. Das deutsche Gesundheitswesen steckt in einem doppelten Dilemma, da neben den Fachkräften auch die Patientinnen und Patienten älter werden. Um mit dieser Entwicklung umgehen zu können, die besonders mit dem Renteneintritt der Babyboomergeneration einhergeht, fordern Expertinnen wie die Medizinsoziologin Adelheid Kuhlmey gute Konzepte in den kommenden zehn Jahren. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt appelliert sie aber auch an die Eigenverantwortung der Älteren und deren Chance der Politikgestaltung für die Zukunft.

Adelheid Kuhlmey /picture alliance, Christian Rank
Adelheid Kuhlmey /picture alliance, Christian Rank

5 Fragen an Adelheid Kuhlmey, Seniorprofessorin der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Gründungsvorstand Wissenschaft der Medizinischen Universität Lausitz – Carl Thiem

Deutschland steckt in einem Dilemma: Einerseits verliert das Gesundheitssystem aus Altersgründen viele Arbeitskräfte und andererseits müssen gleichzeitig immer mehr Ältere versorgt werden. Wo sehen Sie jetzt schon diese Folgen des demografischen Wandels?
Befördert durch die Pandemiejahre sind Arbeitskräfte aus der Babyboomergeneration früher aus dem Job ausgeschieden, so dass wir den Mangel schon heute massiv bemerken. Leider antworten wir noch immer konzeptionslos auf diese voraussehbare Entwicklung. Da ärgert es mich schon, dass im aktuellen Koalitionsvertrag das Wort „Demografischer Wandel“ nicht genannt wird. Die Folgen dieses Wandels liegen auf der Hand: eine rückläufige Zahl von Fachpersonen im Gesundheitswesen steht einer zunehmenden Zahl von hochbetagt werdenden Babyboomern gegenüber, die immer mehr Gesundheitsversorgungsleistungen abfragen.

Die Babyboomer werden also zu Nutzerinnen und Nutzern des Gesundheitssystems, das sie als Arbeitskräfte verlassen haben und weniger neue Fachpersonen kommen nach. Das ist eine besondere Doppelwirkung im Gesundheitssystem. Wann kommt dieser Kipppunkt?
Erste Auswirkungen spüren wir schon jetzt. Der Kipppunkt kommt aber dann, wenn die meisten ärztlichen, pflegerischen oder sozialen Leistungen aus dem System benötigt werden. Das wird zwischen 2035 und 2050 sein. Viele der Babyboomer werden 95 oder noch älter werden. Von 2025 an haben wir also noch etwa zehn Jahre Zeit, um uns auf die Jahre mit der wahrscheinlich höchsten Nachfrage vorzubereiten. Wir müssen in dieser Zeit Konzepte für die soziale, medizinische und pflegerischer Versorgung der Babyboomergeneration finden. Wenn wir die kommenden zehn Jahre ohne Anstrengungen verstreichen lassen, dann wird es schwierig.

Sie sagten, uns müssen kluge Konzepte einfallen. Eine Demografiestrategie, die es vor Jahren einmal gab, ist im Sande verlaufen. Was müsste so eine politische Gesamtstrategie in dem Zeithorizont, den Sie beschrieben haben, beinhalten?
Insgesamt brauchen wir ein Vorgehen, das der Strategie von „Health in all Policies“ folgt. Wir brauchen Ansätze der Gesunderhaltung als durchgängiges Politikziel für die ältere Gesellschaft. Das Setzen auf den Erhalt der Selbstständigkeit bis ins hohe Alter, hilft uns allen: uns als altwerdende Menschen, unseren Familien und Angehörigen, dem Gesundheitssystem, aber auch der Wirtschaft, wenn sie mit mehr und länger gesunden Arbeitskräften rechnen kann.

Für die Gesundheitsversorgung müssen wir auf regionalspezifische Konzepte setzen. Ländliche Regionen brauchen andere Konzepte zur Versorgung als die Großstadt. Versorgungskonzepte sollten kleinteiliger, regionaler, angepasster gestaltet werden.

Außerdem müssen wir alle umdenken: Menschen, die alt und hochbetagt werden, müssen Vorsorge treffen für Lebensabschnitte mit gesundheitlichen Einbußen oder Hilfebedarf.

Ihre Vorschläge zielen auf unterschiedliche Politikebenen, sei es eine Bundesgesetzgebung sowie auf die kommunale Ebene. Wurde in der Politik auf allen Ebenen das Problem überhaupt schon als Ansatz verstanden?Vor vielen Jahren hätte ich nein gesagt, das sage ich jetzt nicht mehr. Inzwischen kenne ich sehr viele kommunale Projekte, die nachhaltig in den Regionen verankert sind und auch außergewöhnliches bürgerschaftliches Engagement beinhalten. Es passiert also etwas auf der kommunalen Ebene. Das allgemeine Politikziel „gutes Leben in den Gesellschaften des langen Lebens“ sehe ich aber nicht umgesetzt. Dazu brauchen wir z.B. einen großen Wurf in der Pflegereform. Einen so großen Wurf, wie bei der Einführung der Pflegeversicherung.

Zum Schluss: Kann der demografische Wandel, der in verschiedenen Dimensionen auf die Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten zukommen wird, auch eine Chance sein?
Auf jeden Fall ja! Es ist ja schon länger in der Gesellschaft so, dass wir mehr Ältere haben als Jüngere. Aber mit dem Älterwerden der Babyboomergeneration haben wir noch einmal eine Chance: Das ist eine sehr bildungsaffine Generation, eine Generation, die viele Bildungsaufsteiger hatte, die jetzt an vielen Schaltstellen von Politik, Gesundheitsversorgung und auch in den Kommunen sitzt. Diese Generation hat aber auch erlebt, wie der hochbetagte Lebensabschnitt ihrer Eltern verlief. Und damit haben sie nun die Chance, sich ein Bild von der eigenen Zukunft zu machen. Ich bin ziemlich sicher, dass das Altwerden der Babyboomer nicht ohne Wirkungen bleibt für neue Wege eines gutes und gesunden Alterns.

bee

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