Politik

Deutscher Ethikrat: Einsamkeit als mehr­dimensionales Phänomen

  • Mittwoch, 19. Juni 2024
/Tunatura, stock.adobe.com
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Berlin – Jeder dritte Mensch in Deutschland zwischen 18 und 53 Jahren fühlt sich zumindest teilweise einsam. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). Für den Deutschen Ethikrat ist das unter anderem ein Grund, das Thema Einsamkeit als Phänomen in den Fokus seiner diesjährigen Jahrestagung zu stellen. Die gut besuchte Veranstaltung fand heute in Berlin statt und lag damit auch zeitlich in der vom Bund initiierten Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ vom 17. bis 23. Juni.

„Einsamkeit ist schon lange keine Randerscheinung mehr“, sagte Ethikratsmitglied Mark Schweda, der die Jahrestagung eröffnete. Seit der Coronapandemie sei das Phänomen jedoch viel stärker in unser Bewusstsein gerückt. Nun wolle man analysieren, welche gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen Einsamkeit für das Individuum und für die Gesellschaft haben könne, und diskutieren, wie man damit umgehen sollte, so der Philosoph und Medizinethiker.

Es sei eher ungünstig, dass Einsamkeit als Thema gesellschaftlich relevant, aber politisch nicht kontrovers sei, meinte Heinz Bude, Soziologe der Universität Kassel. Denn dadurch werde die Debatte nicht über unterschiedliche Auffassungen zu den Gründen von Einsamkeit in der Gesellschaft geführt und schon gar nicht zu den unterschiedlichen Strategien, damit umzugehen.

„Die Gefahr besteht dann, dass die Sache sozialtechnologisch neutralisiert wird oder in Sonntagsreden verschwindet“, sagte er. Zudem betonte der Soziologe den Unterschied zwischen sozialer Isolation und dem Empfinden von Einsamkeit. Einsamkeit entstehe in sozialen Beziehungen und gehe nicht auf das Fehlen sozialer Kontakte zurück. Somit könnte es eine Täuschung sein, dass es heute mehr Einsamkeit gebe. Einsamkeit sei nicht nur Folge von sozialen Bedingungen, sondern auch ein Grund von sozialen und individuellen Schwächungen.

Auch Lars Fredrik Händler Svendsen, Philosoph an der Universität Bergen, Norwegen, nimmt nicht an, dass die Einsamkeit heute weitverbreiteter ist als noch vor 40 oder 140 Jahren. Allerdings sei die Besorgnis über die Einsamkeit heute größer, sagte er. Dies schaffe Druck, das Problem stärker anzugehen. Um das Problem zu lindern, müsse man die Ursachen der Einsamkeit verstehen. Der wichtigste Prädiktor für Einsamkeit ist für ihn dabei ein geringes Maß an allgemeinem Vertrauen.

Sabine Diabaté, Soziologin am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, hält langanhaltende Einsamkeit sowohl individuell als auch gesellschaftlich für problematisch. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sei sie auch ein „Ungleichheitsindikator“: Betroffene Personen hätten schlicht weniger Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe.

Die Ursachen von Einsamkeit seien verknüpft mit der sozialen Lage, längerer Krankheit oder Migrationserfahrung. Besonders gefährdet seien Personen, bei denen mehrere Faktoren vorliegen würden. Elementar sei ein regelmäßiges Monitoring aller Bevölkerungsgruppen.

Die Professorin für Psychologische Methodenlehre an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied im Projektbeirat des Kompetenznetzes Einsamkeit, Maike Luhmann, verwies auf die Unterschiede zwischen Einsamkeit und sozialer Isolation: Einsamkeit werde immer als unangenehm, sogar als schmerzhaft empfunden. Trotzdem sei es gut, dass Menschen Einsamkeit empfinden könnten: Sie diene als Warnsignal und motiviere Menschen, ihre sozialen Bindungen zu stärken. Chronische Einsamkeit sei jedoch mit diversen negativen Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft verbunden.

Dass das subjektiv gelebte Gefühl der Einsamkeit nicht identisch mit dem objektiven Tatbestand der Isolation sei, bestätigte aus medizinischer Sicht auch Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm. Einsamkeit aktiviere vielmehr Gehirnstrukturen, die mit Strukturen der Schmerzverarbeitung und Schmerzwahrnehmung teilweise identisch seien. Zudem sei Einsamkeit ansteckend und entfernungsabhängig.

Epidemiologische Untersuchungen hätten ferner gezeigt, dass Einsamkeit die Mortalität in stärkerem Ausmaß steigere als Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Bluthochdruck. „Diese medizinischen Einsichten haben Relevanz für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Einsamkeit, welches aufgrund der vorliegenden Megatrends der Singularisierung, Urbanisierung und Medialisierung in den kommenden Jahren noch an Bedeutung gewinnen wird“, ist Spitzer überzeugt.

ER

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