Politik

Flucht aus der Ukraine: Faeser will mehr EU-Solidarität

  • Donnerstag, 24. März 2022
/Jonathan Stutz, stock.adobe.com
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Berlin – Nach vier Wochen Krieg tut sich die Bundesregierung immer noch damit schwer, das Ausmaß der Fluchtbewegung aus der Ukraine nach Deutschland einzuschätzen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dringt in Brüssel auf mehr europäische Solidarität. Feste Quoten zur Verteilung der Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fliehen, wird es in der Europäischen Union (EU) jedoch voraussichtlich nicht geben.

„Noch ist völlig unklar, wie viele Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine bei uns Zuflucht suchen wer­den. Wir wissen nur: Es werden viele sein“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gestern im Bun­des­tag. Auch wie viele Kriegsflüchtlinge sich bereits in Deutschland aufhalten, ist nach wie vor unbekannt. Die Aufnahme und Unterbringung dieser Menschen liegt in der Zuständigkeit der Länder. Bei der Vertei­lung ist aber auch der Bund gefragt.

„Wir haben noch keine Zahlen darüber, wie viele jetzt tatsächlich in welchem Bundesland untergekomm­en sind“, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Maximilian Kall. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe noch keine Übersicht, wie viele der Kriegsflüchtlinge sich in den Erstauf­nahmeeinrichtungen aufhielten.

Wie das Bundesinnenministerium mitteilte, hat die Bundespolizei seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine die Ankunft von 238.932 Kriegsflüchtlingen festgestellt. Ukrainer dürfen allerdings ohne Visum einreisen – die Zahl der Angekommenen ist daher wahrscheinlich insgesamt höher.

Nicht erfasst wird außerdem, wie viele Geflüchtete von Deutschland aus weiterreisen zu Freunden oder Verwandten in anderen Staaten. Nachdem in der Vorwoche täglich mehr als 10.000 neu eingetroffene Kriegsflüchtlinge festgestellt worden waren, erfasste die Bundespolizei in den vergangenen zwei Tagen jeweils rund 7.000 Neuankömmlinge.

„Wir arbeiten jetzt intensiv daran, gemeinsam mit Polen und Frankreich weitere Drehkreuze aufzubauen, um die Verteilung der Geflüchteten auch in andere EU-Staaten zu ermöglichen“, sagte Faeser in Brüssel nach einem Gespräch mit EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Frankreich habe zugesagt, Geflüchtete aufzunehmen und über Lyon, Bordeaux und Dijon zu verteilen.

Die Deutsche Bahn sei mit der französischen Bahn SNCF zu Zugverbindungen im Kontakt. Bis das etabliert sei, würden Busse eingesetzt. Die EU habe beschlossen, dass alle Mitgliedstaaten gemeinsam, schnell und unbürokratisch Kriegsflüchtlingen vorübergehenden Schutz gewähren. „Das müssen jetzt auch alle gemeinsam umsetzen“, betonte Faeser.

Die EU-Kommission erteilte Forderungen nach einem verpflichtenden Schlüssel zur Verteilung von Flüchtlingen aus der Ukraine über die EU-Staaten allerdings eine klare Absage. Die Menschen, die unter der Richtlinie für einen Massenzustrom Vertriebener Schutz suchten, dürften sich frei in der EU bewegen.

Man werde nicht entscheiden, wo sie sich niederlassen sollten. Jedoch brachte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson einen Index als Grundlage für eine mögliche Verteilung ins Spiel, der die Belastung der einzelnen Länder zeigen soll. Dieser solle etwa berücksichtigen, wie viele Menschen aus der Ukraine in den einzelnen Ländern bereits aufgenommen worden sind und wie viele Menschen dort 2021 Asyl beantragt hätten.

Faeser begrüßte diesen Ansatz. Bei der Frage der Verteilung der Menschen müsse es am Montag beim Sondertreffen der EU-Innenminister konkret werden. „Ich glaube, es braucht vor allen Dingen feste Zusagen aller europäischen Staaten, dass sie aufnehmen.“

Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Dorothee Bär (CSU), kritisierte, die Bundesregierung habe sich nicht darauf vorbereitet, die Aufnahme jener Menschen zu koordinieren, „die den Schutz vor den Bomben suchen“. Bär sagte: „Herr Scholz, ich erwarte, dass Sie das jetzt mal zur Chefsache machen.“ Dass es bislang nicht gelinge, die ankommenden Flüchtlinge und die sie hier abholenden Menschen zu registrieren, sei ein „Kontrollverlust“.

Um mehr Sicherheit für die Flüchtlinge zu gewährleisten, sei die Möglichkeit einer Registrierung der Anbieter von Unterkünften auf der Website unterkunft-ukraine.org geschaffen worden, teilte das Bundesinnenministerium mit. Eine Abholung der Geflüchteten sei nur nach einer Vor-Ort-Identifizierung durch Vorlage des Personalausweises möglich.

Die Polizeibehörden von Bund und Ländern seien wachsam, um mögliche Fälle von Ausbeutung im Zusammenhang mit der Lage der Flüchtlingen zu verhindern. „Es liegen bislang aber keine bestätigten Informationen über konkrete Menschenhandelsverdachtsfälle oder ausbeuterische Handlungen zum Nachteil von in Deutschland ankommenden Frauen aus der Ukraine vor“, berichtete eine Sprecherin auf Anfrage.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben seit Kriegsbeginn rund 3,6 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Kein anderes Land hat bisher so viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen wie das Nachbarland Polen, wo nach Angaben des Grenzschutzes mehr als 2,17 Millionen Flüchtlinge eingetrof­fen sind.

Es gibt keine offiziellen Angaben dazu, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen geblieben und wie viele bereits in andere EU-Staaten weitergereist sind. Die Ukraine hatte vor Beginn des russischen Angriffs mehr als 44 Millionen Einwohner. In der Ukraine selbst werden immer wieder auch medizinische Einrichtungen angegriffen.

Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es seit dem russischen Einmarsch 64 bestätigten Angriffe. Das bedeute zwei bis drei Angriffe pro Tag. Insgesamt seien bei diesen Attacken 15 Menschen getötet und 37 verletzt worden.

„Angriffe auf das Gesundheitswesen sind eine Verletzung des humanitären Völkerrechts, aber eine ver­störend geläufige Kriegstaktik – sie zerstören entscheidende Infrastruktur, aber schlimmer noch, sie zer­stören Hoffnung“, erklärte Jarno Habicht, der WHO-Vertreter in der Ukraine.

Ohnehin schon gefährdeten Menschen werde so die Versorgung entzogen, die oft den Unterschied zwi­schen Leben und Tod ausmache. Nach knapp einem Monat Ukraine-Krieg wies das in Kopenhagen an­sässige Europa-Büro der WHO auf die verheerenden Folgen des Konflikts für das ukrainische Gesund­heitssystem hin.

Der Zugang zu Gesundheitsdiensten sei durch den Krieg stark eingeschränkt worden, der Bedarf an Behandlungen von Traumata und chronischen Erkrankungen groß. Zerstörte Gesundheitsinfrastruktur und unterbrochene medizinische Versorgungsketten stellten eine ernsthafte Bedrohung für Millionen Menschen dar. Es werde angenommen, dass etwa jede zweite Apotheke in der Ukraine geschlossen sei. Viele Mitarbeiter des Gesundheitswesens seien selbst vertrieben worden oder nicht in der Lage zu arbeiten.

Die WHO beklagte auch, dass es trotz dringenden Bedarfs an medizinischer Hilfe keinen Zugang dazu gibt. Zum Beispiel habe ein geplanter Konvoi in die von russischen Einheiten belagerte Stadt Mariupol wegen des Sicherheitsrisikos nicht aufbrechen können, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. „Die humanitäre Lage verschlechtert sich in vielen Teilen des Landes weiter“, sagte er bei einer Pressekonferenz.

Besonders kritisch sei die Situation in der Hafenstadt Mariupol und in Butscha bei Kiew. Bislang hat die WHO erst 9,6 Millionen der 57,5 Millionen Dollar erhalten, die die Organisation für die kommenden drei Monate in der Ukraine nach eigenen Angaben braucht.

„Wir haben schwere Liquiditätsengpässe“, sagte Tedros und forderte mehr Engagement von Geberländern. Laut dem WHO-Generaldirektor stellen die kriegsbedingten medizinischen Versorgungsprobleme eine extreme Gefahr für Menschen mit Herzproblemen, Krebs, Diabetes, HIV und Tuberkulose dar. Diese Krankheiten gehören zu den häufigsten Todesursachen in der Ukraine.

Außerdem steige wegen des Konfliktes das Risiko für Infektionskrankheiten wie Masern oder COVID-19. Laut dem obersten Krisenmanager der WHO, Mike Ryan, gibt es auch unter den rund 6,5 Binnenvertriebe­nen einen massiven Bedarf an medizinischer Versorgung. Fast jeder dritte Haushalt, der woanders in der Ukraine Schutz gesucht habe, beinhalte jemand chronisch Kranken, jeder zehnte Haushalt eine Schwangere und fast jeder fünfte Haushalt jemanden mit Behinderung.

Der Vorstand der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) forderte heute die Einhaltung der Genfer Kon­ven­tionen und kritisierte die Verstöße dagegen durch die russischen Streitkräfte. Angriff und Zerstörung von Einrichtungen der medizinischen Versorgung wie Krankenhäuser und ärztliche Praxen seien ein eklatanter Verstoß gegen die Genfer Konventionen. „Kliniken stehen unter besonderen Schutz“, sagte ÄKWL-Präsident Johannes Albert Gehle.

dpa/may

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