Klimaneutraler Gesundheitssektor benötigt klare politische Vorgaben

Berlin – Die Bundesregierung muss klare Maßnahmen inklusive Finanzierung festlegen, um die Klimaneutralität des deutschen Gesundheitssektors zu erreichen. Das mahnt ein Autorenteam des aktuellen Policy Briefs an, der die Empfehlungen des in der vergangenen Woche erschienenen Lancet Countdowns on Health and Climate Change für Deutschland zusammenführt.
Der Lancet Countdown beleuchtet einmal im Jahr die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit der Menschen. Der Policy Brief wird unter anderem von der Bundesärztekammer (BÄK) unterstützt.
„Der Lancet Countdown 2024 verdeutlicht, dass die negativen Auswirkungen der Klimakrise weltweit ein beispielloses Ausmaß erreicht haben – insbesondere mit Blick auf unsere Gesundheit“, heißt es in dem Policy Brief. „Wenn sich die Umsetzung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen weiter verzögert, verursacht dies hohe gesundheitliche, ökonomische, soziale und ökologische Folgekosten.“
So habe die Flut im Ahrtal im Jahr 2021 nicht nur 135 Menschenleben gefordert, sondern auch Kosten von schätzungsweise 40,5 Milliarden Euro hervorgerufen. „Es ist daher dringender denn je, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Klimakrise nicht weiter zu verschärfen und gleichzeitig die systemische Resilienz des Gesundheitssektors und der Gesellschaft zu stärken“, betonen die Verfasserinnen und Verfasser.
Klimaschutz muss finanziert werden
Entscheidend sei dabei ein resilienter und klimaneutraler Gesundheitssektor, um die zunehmenden Gesundheitsrisiken durch die multiplen Krisen zu bewältigen und gleichzeitig zur Reduktion der Treibhausgasemissionen beizutragen.
Im Jahr 2019 emittierte der deutsche Gesundheitssektor einer Erhebung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zufolge 68 Millionen Tonnen Treibhausgase und damit etwa sechs Prozent der gesamten Emissionen Deutschlands. Bereits 2021 forderte der Deutsche Ärztetag alle Akteure des Gesundheitswesens dazu auf, den Gesundheitssektor bis 2030 klimaneutral zu gestalten.
Um dieses Ziel zu erreichen, fordern die Autorinnen und Autoren des Policy Briefs klare Ziele zur Reduktion der Klima- und Umweltwirkung des Gesundheitssektors, einen entsprechenden Maßnahmenplan und die Finanzierung der Umsetzung.
„Die notwendige Transformation des Gesundheitssektors erfordert finanzielle Anreize für nachhaltiges Wirtschaften und die Modernisierung der Infrastruktur“, betonen sie. „Gezielte Investitionen zum Beispiel in erneuerbare Energien und energetische Sanierungen entlasten den Gesundheitssektor langfristig.
Das Wirtschaftlichkeitsgebot in den Sozialgesetzbüchern sollte durch ein Nachhaltigkeitsgebot flankiert werden, um nachhaltiges Handeln zu vereinfachen. Es ist dringend erforderlich, die Investitionsmittel im Rahmen der gesetzlichen Investitionsfinanzierung oder durch zusätzliche gezielte Förderprogramme bereitzustellen.“
Emissionen bilanzieren
Unerlässlich sei das Bilanzieren und Berichten von Treibhausgasemissionen im Gesundheitssektor, um Klimaschutzmaßnahmen koordiniert und effektiv zu priorisieren. „Alle größeren Gesundheitseinrichtungen sollten ihre Treibhausgasemissionen nach einheitlichen Kriterien erfassen und berichten“, so die Autoren des Policy Briefs.
„Diese Daten sollten die Grundlage einer sektorweiten Dekarbonisierungsstrategie bilden. Im Vordergrund sollte das Wissen um und die Umsetzung von möglichst effektiven Klimaschutzmaßnahmen in den verschiedenen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen stehen.“
Bei der Erhebung der bislang oft nur geschätzten Scope-3‑Emissionen – die die Emissionen vorgelagerter Prozesse zum Beispiel bei der Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten umfassen – müssten internationale Datenbanken mit Product Carbon Footprints geschaffen werden, um nachhaltige Kaufentscheidungen zu begünstigen. Dazu brauche es öffentlich zugängliche Informationen zu Klima- und Umweltauswirkungen von Liefer- und Produktionsketten.
„Die nationale und europäische Lieferkettengesetzgebung sowie die Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie sind erste Schritte zur verbindlichen Berücksichtigung von Nachhaltigkeit“, heißt es im Policy Brief. „Dem müssen weitere regulatorische Anreize für die nachhaltigere Produktions- und Recyclingfähigkeit von Arzneimitteln und Medizinprodukten folgen.“
Umweltfreundliche Ernährung subventionieren
Zudem fordern die Autoren des Policy Briefs mehr Anstrengungen der Regierung, um die Ernährungswende in Deutschland voranzutreiben. „Politische Rahmenbedingungen und privatwirtschaftliche Interessen der Agrar- und Ernährungsindustrie stehen der flächendeckenden Umsetzung einer gesünderen und umweltfreundlicheren Ernährung im Wege“, schreiben sie.
„Diese wird zudem durch eine mangelnde Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und eine fehlende Politikkohärenz maßgeblich erschwert.“ So fehlten beispielsweise in der Gemeinschaftsverpflegung verbindliche Vorgaben und Unterstützungsangebote.
„Steuern und Subventionen sollten so umgestaltet werden, dass sie eine Wende zu gesunden und umweltfreundlichen Ernährungsweisen unterstützen“, heißt es in dem Policy Brief. „Dazu zählen die Umschichtung landwirtschaftlicher Subventionen hin zu klima- und umweltfreundlichen Produktionssystemen und eine steuerliche Begünstigung gesunder beziehungsweise eine an den Folgekosten orientierte Besteuerung ungesunder beziehungsweise klimaschädlicher Lebensmittel.“
Prävention stärken
In der Gemeinschaftsverpflegung, zum Beispiel in Schulen, Kindertagesstätten, Kliniken und Pflegeeinrichtungen, sollten dabei verbindliche Qualitätsstandards gemäß den neuen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung eingeführt werden.
Im Gesundheitssektor sollten zudem Strukturen und Prozesse gefördert werden, die das präventive und therapeutische Potenzial der Ernährung in Bezug auf individuelle und planetare Gesundheit explizit fördern und nutzbar machen. Dies umfasse die Integration in Aus‑, Weiter- und Fortbildung, die Stärkung von Ernährungsmedizin und ‑beratung sowie Anreizmodelle für eine gesundheitsfördernde Ernährung in Gesundheitseinrichtungen.
Ohnehin müsse die Prävention im Bereich des Klimaschutzes gefördert werden: „Die wesentliche Voraussetzung für einen resilienten Gesundheitssektor ist eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik. Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung müssen im Sinne des Health-in-and-for-all-Policies-Ansatzes als Querschnittsaufgabe verankert werden. Dazu sollten entsprechende Strukturen gestärkt werden, zum Beispiel durch die geplante nationale Präventionsinitiative und das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin, das die Umsetzung begleiten, evaluieren, fortschreiben sowie bestehende Netzwerkstrukturen nutzen sollte.“
Zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen
Die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Susanne Johna, betonte die Rolle der Ärztinnen und Ärzte, die diese bei der Transformation zu einem klimaneutralen Gesundheitswesens innehaben. „Wir Akteure im Gesundheitswesen spielen eine zentrale Rolle bei Kommunikation der gesundheitlichen Folgen des Klimawandels“, betonte Johna gestern bei der Vorstellung des Policy Briefs. „Wir müssen als Ärztinnen und Ärzte aktiv zur öffentlichen und politischen Meinungsbildung im Hinblick auf eine Verbesserung des Klimaschutzes beitragen.“
Es gelte, den ökologischen Fußabdruck des Gesundheitswesens zu reduzieren und das System resilienter zu machen. „Wir brauchen jetzt Taten statt weiterer Worte“, betonte Johna.
Dabei reichten die derzeitigen Bemühungen nicht aus. „Wir brauchen klare gesetzliche Vorgaben zur Reduktion der Emissionen im Gesundheitswesen und wir brauchen Förderprogramme für ein klimaneutrales und resilientes Gesundheitssystem“, forderte auch Johna. „Klimaschutz muss gesetzlich verankert werden. Jeder Euro, den wir jetzt nicht in ein klimafreundlicheres Gesundheitswesen investieren, wird sehr hohe Folgekosten verursachen. Es ist entscheidend, dieses Thema entschlossen voranzutreiben.“
Zwischenschritte definieren
Karsten Neuhoff vom Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung betonte die Bedeutung von Zwischenzielen, die auf dem Weg zur Klimaneutralität des Gesundheitswesens festgelegt werden müssten.
„Wir müssen die Transition auf verständliche Zwischenziele herunterbrechen, zum Beispiel im Hinblick auf eine Sanierungsstrategie von Krankenhäusern“, sagte Neuhoff. „Wir müssen Zwischenschritte definieren, über die man dann auch den Fortschritt sehen kann.“ Wichtig sei dabei die Verbindlichkeit, denn ohne Verbindlichkeit würden keine Verantwortlichkeiten verteilt.
Der Policy Brief für Deutschland wurde vom Institut für Epidemiologie (EPI) des Helmholtz Zentrums München, dem PIK, der medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Kompetenzzentrum für klimaresiliente Medizin und Gesundheitseinrichtungen (KliMeG) verfasst. Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) und das Centre for Planetary Health Policy (CPHP) haben diesen Prozess koordiniert.
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat die Empfehlungen des Policy Briefs unterstützt und ebenfalls einen koordinierten Einsatz von Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Gesundheitswesen mit dem Ziel gefordert, klimabedingte Gesundheitsrisiken vorzubeugen und die Klimaresilienz zu stärken.
„Hitzewellen, Luftverschmutzung und sich durch höhere Temperaturen weiter verbreitende Infektionskrankheiten gefährden zunehmend die Gesundheit der Bevölkerung“, betont die DGIM. Besonders internistische Krankheitsbilder wie Nieren-, Lungen- oder Herzerkrankungen und deren Komplikationen würden durch Hitze und hohe Luftverschmutzung gefördert.
Der Vorsitzende der DGIM, Jan Galle, betonte: „Als Ärztinnen und Ärzte sollten wir ein gutes Beispiel abgeben und eine aktive Rolle einnehmen, um die Umwelt nachhaltig zu schützen. Damit tragen wir auch zur Resilienz des Gesundheitssektors gegen die Klimaerwärmung bei.“ Als Beispiele nannte Galle den Einsatz von Telemedizin zur Reduktion vermeidbarer Autofahrten bis hin zu evidenzbasierten Ernährungsempfehlungen.
Der Generalsekretär der DGIM, Georg Ertl, ergänzte: „Fest steht: Wir können nicht abwarten, bis die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels die Versorgung überlasten. Präventives Handeln ist jetzt nötig, um ein stabiles Gesundheitssystem für die Zukunft zu sichern.“
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