Koalition diskutiert über Streichung von Pflegegrad 1

Berlin – Angesichts der Finanzierungslücke von rund zwei Milliarden Euro in der gesetzlichen Pflegeversicherung im kommenden Jahr wird in der Bundesregierung über die Streichung des Pflegegrads 1 diskutiert. Allerdings scheint auch innerhalb der Koalition keine Einigkeit über die Pläne zu herrschen, wie der Debattenverlauf am Wochenende gezeigt hat.
Die Kürzung sei eine mögliche Maßnahme zur Konsolidierung der Finanzlage, berichtete die Bild am Sonntag unter Berufung auf übereinstimmende Angaben von führenden Politikern von Union und SPD.
Wie konkret die Pläne sind, wollte ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums nicht sagen. Er verwies auf die aktuell beratende Kommission zur Pflegereform. Das Gremium will bis Mitte Oktober einen ersten Bericht vorlegen.
Das Einsparvolumen bei einem Wegfall von Pflegegrad 1 wird auf circa 1,8 Milliarden Euro beziffert. Ende 2024 waren den Angaben zufolge rund 863.000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft. Sie haben Anspruch auf finanzielle Zuschüsse, wenn sie ihre Wohnung barrierefrei umbauen müssen. Darüber hinaus steht ihnen ein monatlicher Entlastungsbetrag von bis zu 131 Euro zu.
„Durch die Einführung des Pflegegrades 1 wurde der Kreis der Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten können, deutlich erweitert“, heißt es auf der Homepage des Bundesgesundheitsministeriums.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) äußerte sich zurückhaltend zu den Berichten, schloss eine Abschaffung aber auch nicht aus. Den Fernsehsendern RTL und ntv sagte die Ministerin, „wir werden den Menschen nicht über Nacht etwas wegnehmen“.
Das Pflegesystem sei eine große Errungenschaft. „Aber wir müssen jetzt notwendige Änderungen vornehmen, um auch in Zukunft den Menschen noch in gewohntem Umfang helfen zu können und das System generationengerecht zu machen.“
Eine Reform der Pflegeversicherung sei „dringend überfällig“, betonte Warken. Wenn das System aber neu ausgerichtet werde, werde es auch Veränderungen geben. Die Pflegegrade seien sehr gute Bewertungsinstrumente, den Menschen müsse aber zielgerichtet geholfen werden. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform werde Mitte Oktober erste Vorschläge machen.
Absage von der SPD-Spitze
Ein klares Nein zur Streichung des Pflegegrads 1 kam am Wochenende von der SPD. Als SPD-Fraktion verwahre man sich entschieden gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung, teilte der gesundheitspolitische Sprecher Christos Pantazis mit.
Ähnlich hatte sich SPD-Fraktoinschef Mathias Miersch am Sonntagabend in der ARD geäußert. Er schloss im Bericht aus Berlin eine Abschaffung der Pflegestufe 1 kategorisch aus. Statt Leistungen zu kürzen, müsse die Effizienz im Pflege- und Gesundheitssystem erhöht werden, sagte Miersch.
Die Diskussion sei nicht neu, sagte Pantazis. Die Union habe diesen Vorschlag bereits in die Koalitionsverhandlungen eingebracht, die SPD habe ihn klar zurückgewiesen. „Als Verantwortungskoalition haben wir die Pflicht, Orientierung zu geben, statt mit immer neuen Kürzungsdebatten Verunsicherung zu schüren. Denn Verunsicherung ist das Einfallstor für Populisten.“
Kritik an den Überlegungen kam nicht nur von Verbänden, sondern auch von der Opposition. Statt dringend notwendiger Entlastung und der Streichung von Hilfen im Alltag müsse Gesundheitsministerin Warken dafür sorgen, dass die sechs Milliarden Euro Coronamehrkosten in die Pflegeversicherung zurückfließen, forderte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Simone Fischer. „Außerdem ist ein Kostenausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung dringend geboten.“
Der stellvertretende Parteivorsitzende und gesundheitspolitische Sprecher der Linken im Bundestag Ates Gürpinar vertrat eine ähnliche Position. Die im Raum stehende Maßnahme würde zudem die Schwächsten der Gesellschaft treffen, sagte Gürpinar dem Spiegel.
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann nannte die Pläne „ein völlig falsches Signal“. Die Menschen in der Pflegestufe 1 brauchten jede Unterstützung, den Verbleib im eigenen Zuhause und ein selbstbestimmtes Leben abzusichern. Auch pflegende Angehörige bräuchten mehr Unterstützung, nicht weniger, schrieb Haßelmann im Netzwerk X. „Die Bundesregierung sollte aufhören, weiter für Verunsicherung und Frust bei pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen zu sorgen.“
Die pflegepolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Evelyn Schötz, nannte eine Streichung der Pflegestufe einen sozialpolitischen Skandal. „Rund 863.000 Menschen mit einem niedrigen Pflegebedarf droht dadurch der vollständige Verlust wichtiger Unterstützungsleistungen.“ Die Linke fordere einen Ausbau niedrigschwelliger Hilfen, eine bessere finanzielle Unterstützung für pflegende Angehörige und eine Reform, die den Namen verdiene: „solidarisch finanziert, gerecht verteilt und menschenwürdig gestaltet“.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnte ebenfalls vor einer Abschaffung. Dessen Hauptgeschäftsführer Joachim Rock sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Die Abschaffung der Pflegestufe 1 wäre ein fatales Signal – zum einen an die Menschen, die von leichten Einschränkungen betroffen sind. Zum anderen aber auch an die pflegenden Angehörigen.“ 80 Prozent der Menschen in der Pflege würden zu Hause betreut. Geld aus der Pflegestufe 1 entlaste derzeit „gerade die pflegenden Angehörigen, etwa mit Einkaufshilfen oder Putzdiensten“, betonte Rock.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sagte, der Pflegegrad 1 sei 2017 eingeführt worden, um demenziell erkrankte Menschen in die Pflegeversicherung zu integrieren. „Damals ist das von allen Parteien als überfällig gefeiert worden.“
Wenn die Bundesregierung diesen Pflegegrad abschaffen wolle, wäre das ein schwerer Schlag für die Betroffenen, kritisierte Brysch. „Auch würde die schwarz-rote Koalition alle Argumente, die zur Einführung des Pflegegrades 1 führten, über Bord werfen. Die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit deutscher Sozialpolitik müsste beerdigt werden.“
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