Politik

Kontroverse zur Ausweitung der sexuellen Selbstbestimmung zwischen Ärzten und Juristen

  • Mittwoch, 4. November 2020
/nito, adobe.stock.com
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Berlin – Gesetzgeberische Vorstöße zur Ausweitung der sexuellen Selbstbestimmung ha­ben vorgestern bei einer Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages überwiegend die Zustimmung zumindest der juristischen Experten gefun­den.

Der ­einzig geladene ärztliche Experte Alexander Korte, Ludwigs-Maximilian-Universität (LMU) München, sah hingegen die Einführung eines Selbst­bestimmungsgesetzes und die Aufhebung des Transsexuellengesetzes, wie es zwei Gesetzentwürfe der FDP-Fraktion und der Grünen im Bundestag vorsehen, kritisch.

Die Sachverständigen bewerteten auch einen Antrag der Linksfraktion, die im Wesentli­chen fordert, Entschädigungen an trans-und intergeschlechtliche Menschen zu zahlen, an denen fremdbestimmte normangleichende Genitaloperationen durchgeführt wurden.

Die FDP-Fraktion will mit ihrem Gesetzentwurf das aktuelle Transsexuellengesetz und den Paragrafen 45b des Personenstandsgesetzes abschaffen und durch ein „Gesetz zur Selbstbestimmung über die Geschlechtsidentität“ ersetzen.

Wie die Fraktion ausführt, haben Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen, in Deutschland die Möglichkeit, sich medizinisch und juristisch einer Transition zu unterziehen.

Das juristische Änderungsverfahren werde durch das 1981 in Kraft getretene Trans­sexu­ellengesetz normiert, das zwei Optionen für Menschen vorsehe, deren Geschlechts­identi­tät nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt: die Änderung des Namens sowie die formelle Änderung der Geschlechtszugehörigkeit über den Perso­nenstand.

Voraussetzung für die Änderung des Namens seien nach derzeitiger Rechtslage zwei Gut­achten von Sachverständigen, die mit diesem Gebiet ausreichend vertraut und voneinan­der unabhängig tätig sind.

Dem Entwurf der Grünen zufolge soll das Transsex­uel­lengesetz durch das Selbstbestim­m­ungsgesetz ersetzt und im Personenstandsgesetz klargestellt werden, „dass alle Men­schen eine Erklärung zur Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei einem Standes­amt abgeben können“.

Zudem soll das Selbstbestimmungsgesetz genitalverändernde chirurgische Eingriffe bei Kindern verbieten sowie unter anderem „einen Anspruch auf Achtung des Selbst­bestim­mungs­­rechts bei Gesundheitsleistungen“ statuieren, Bund, Länder und Kommunen zum Ausbau der bisherigen Beratungsangebote verpflichten und eine „Regelung für trans- und intergeschlechtliche Eltern“ einführen.

Diskriminierende Rechtssituation im Personenstandsrecht lösen

Die erste Expertin in der Anhörung, Rechtsanwältin Laura Adamietz, bescheinigte beiden Gesetzentwürfen, in angemessener, nur in Details abweichender Weise eine diskriminie­rende Rechtssituation im Personenstandsrecht zu lösen. Sie sorgten für die nötige fach­li­che Beratung und führten zeitnah zum Übergang vom veralteten Verfahren im Gesund­heitssystem zur Regelversorgung.

Sie setzte sich, bezogen auf den Antrag der Linken, für eine ausführliche Erhebung des Ausmaßes an Zwangssterilisationen und erzwungenen Angleichungsmaßnahmen sowie Zwangsscheidungen ein.

Der Rechtswissenschaftler Florian Becker von der Universität Kiel wies darauf hin, dass beliebige und nicht auf einen ernsthaften Wunsch zurückzuführende Personenstands­wech­sel verhindert werden müssten, ohne jedoch bei der hierfür erforderlichen Normie­rung der konkreten Voraussetzungen für eine Anpassung des Geschlechtseintrags die Grundrechtsverwirklichung auf sexuelle Selbstbestimmung unzumutbar einzuschränken.

Eine Absicherung der Ernsthaftigkeit könne etwa durch das Erfordernis eines medizi­nisch-psychiatrischen Gutachtens, den Nachweis über die Durchführung einer Pflicht­be­ratung oder durch Wartefristen erfolgen.

Ärztliches Begutachtungsverfahrens sollte beibehalten werden

Alexander Korte, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU München, wies darauf hin, dass durch eine ausschließliche Selbstdefinition der eigenen Geschlechtszugehörigkeit einer problematischen Beliebigkeit in der offiziellen geschlechtlichen Zuordnung, mit dann auch verwirrenden gesellschaftlichen und rechtl­ichen Konsequenzen, der Weg geebnet werde. Er plädierte für die Beibehaltung des ärzt­li­chen Begutachtungsverfahrens, wie es das in der Kritik stehende Transsexuellen­gesetz vorsieht.

Kinder könnten auch mit Vollendung des 14. Lebensjahres nicht die Tragweite einer sol­chen Entscheidung absehen. „Wir wissen aus Katamnesestudien, dass sich die Bezeich­nung ‚trans‘ von Kindern oftmals nachträglich als Fehleinschätzung herausstellt. Dem Kind muss ein Entwicklungsraum und Zeit gewährt werden“, fordert der Kinder- und Ju­gendpsychiater.

Darüber hinaus könne die Begutachtung auch eine therapeutische Intervention sein. Denn normalerweise bestehe auch bei den Eltern keine Einigung bezüglich der transsex­uellen Entwicklung ihres Kindes.

In Bezug auf das in den Gesetzentwürfen geforderte Selbstbestimmungsrecht bei Ge­sund­­heitsleistungen sagte Korte: „Bereits die Gleichstellung von Geschlechtsidentität und Geschlecht birgt die große Gefahr, dass Patienten mit Genderdysphorie eine Ausein­an­der­setzung mit ihrer innerpsychischen Identitätsproblematik erschwert wird.

Wenn eine Auseinandersetzung ausbleibt und vorschnelles Drängen auf Korrektur der subjektiv als falsch empfundenen Geschlechtsmerkmale unhinterfragt unterstützt wird, werden Betroffene diesen Weg als einzig lebenswerte Option ansehen.“

Wachsende Zahl von Mädchen mit pubertätsüblichen Körperbildstörungen

Körperverändernde Maßnahmen seien jedoch nicht immer indiziert, so der ärztliche Ex­perte weiter. „Große Sorge bereitet mir die wachsende Zahl von Mädchen mit puber­täts­üblichen Altersrollenkonflikten oder Körperbildstörungen, denen bereits mit 14, 15 und 16 Jahren Brüste amputiert sowie Gebärmutter und Eierstöcke entfernt werden.“

Die Schutzwürdigkeit von Kindern drohe in den Hintergrund zu treten, wenn man nur Autonomie und Selbstbestimmung beachte, so Korte. Deshalb müsse die Begutachtung beibehalten werden.

Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* stellte heraus, dass es um Grundrechte der Betroffenen gehe, die aktuell nicht ausreichend geschützt seien. Es bestehe gesetzlicher Nachbesserungsbedarf. Bei den beiden Gesetzentwürfen und dem Antrag handele es sich um wegweisende Vorschläge, die zentrale Forderungen des Verbandes aufgriffen.

Dazu zählten der selbstbestimmte Geschlechtseintrag, Reformen im Abstammungsrecht, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und die Entschädigung für Zwangssteri­lisationen.

Die Juristin Ulrike Lembke, Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt Universität zu Berlin, machte mit Blick auf die Verfassung gesetzgeberischen Regelungsbedarf aus.

Sie erwähnte die Klarstellung, dass nicht liebgewordene Vor­stellungen von angeblich bi­o­logisch verifizierbarer Binarität geschützt würden, sondern diejenigen, die bei der Etab­lierung solcher Geschlechtsordnung marginalisiert, strukturell benachteiligt, ausgegrenzt und gewaltsam unterworfen würden. Das bedinge einige gesetz­liche Konkretisierungen des Rechts auf diskriminierungsfreie Anerkennung von Geschlechtsidentitäten und ent­sprechende Folgeregelungen.

Die Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold von der Europa-Universität Flens­burg hob hervor, beide Gesetzentwürfe nähmen die Autonomie der Einzelnen in der Frage der Geschlechtszugehörigkeit ernst und verwirklichten damit eine liberale Geschlechter­ord­nung, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seit Jahrzehnten eingefordert habe.

Es sei aus verfassungsrechtlicher Perspektive in hohem Maße begrüßenswert, dass zwei Gesetzentwürfe vorlägen, die die rechtliche Geschlechtszuordnung ausgehend von der individuellen Selbstbestimmung gestalten wollten – und zwar unabhängig von einer medizinischen Qualifikation, die der rechtlichen Einordnung nachrangig sei.

hib/PB

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