Bundesärztekammer gegen grundsätzliches Operationsverbot an Kindern mit unklarem Geschlecht

Berlin – Die Bundesärztekammer (BÄK) kritisiert ein mögliches grundsätzliches Operationsverbot, das zu einer Änderung des biologischen Geschlechts an Kindern und Jugendlichen führt, wie es ein aktueller Gesetzentwurf vorsieht.
Ein grundsätzliches Operationsverbot „wird den betroffenen Kindern und Jugendlichen nicht gerecht und konterkariert zum Teil eine evidenzbasierte Behandlung“, heißt es in der Stellungnahme der BÄK.
Der Referentenentwurf für ein „Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen“ aus dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) sieht ein Verbot geschlechtsverändernder operativer Eingriffe an Kindern durch die Einschränkung der Personensorge der Eltern vor.
Eltern dürften dann also grundsätzlich nicht in einen operativen Eingriff an den inneren und äußeren Geschlechtsmerkmalen ihres Kindes einwilligen, wenn dieser zu einer Änderung des biologischen Geschlechts führt.
Ausnahmsweise sollen Eltern nur dann einwilligen können, wenn der Eingriff erforderlich ist, um eine Lebensgefahr oder eine erhebliche Gesundheitsgefahr für das Kind abzuwenden. Die Einwilligung bedarf dann der Genehmigung durch das Familiengericht.
Darüber hinaus sieht der Referentenentwurf vor, dass ein Kind ab dem vollendeten 14. Lebensjahr selbst in einen operativen geschlechtsverändernden Eingriff einwilligen können soll, wenn das Familiengericht diesen genehmigt. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind einwilligungsfähig ist, die Eltern einwilligen und der Eingriff dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.
Ziel eines solchen Gesetzes sei es, das Recht des Kindes auf geschlechtliche Selbstbestimmung zu schützen, heißt es in der Begründung. Da weder Eltern noch Ärzte die spätere geschlechtliche Entwicklung vorhersehen könnten, sollte die Entscheidung aufgeschoben werden, bis das Kind die nötige Reife dafür hat.
Generelles Verbot von Operationen nicht zielführend
„Ein generelles Verbot von Operationen ist absolut nicht zielführend, denn es schränkt die ärztliche Therapiefreiheit massiv ein und verstößt gegen die Leitlinien“, sagte Clemens Kamrath, Oberarzt am Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, dem Deutschen Ärzteblatt. Auch den Eltern werde das Recht auf die bestmögliche Behandlung ihres Kindes genommen.
„Der Gesetzentwurf unterstellt Ärzten, medizinisch nicht indizierte Operationen vorzunehmen“, betonte Kamrath. Diese seien aber natürlich jetzt auch schon verboten. Bei einem generellen Verbot könnten sinnvolle Therapien nicht mehr zugänglich gemacht werden.
Beispielsweise profitierten Mädchen mit Androgenitalem Syndrom (AGS) oftmals von einer frühen Operation, die ihnen eine normale sexuelle Funktion und damit eine normale Pubertät ermögliche, erklärte der Leiter der Ambulanz für angeborene Stoffwechselerkrankungen.
Interdisziplinäre Beratung in spezialisierten Zentren nötig
„Statt eines grundsätzlichen Operationsverbots ist eine interdisziplinäre Beratung der betroffenen Familien in spezialisierten Zentren viel sinnvoller“, sagte Kamrath. Diese sollte durch Kinderendokrinologen, Kinderchirurgen, Psychologen und gegebenenfalls Genetikern erfolgen.
Solche Zentren gebe es zurzeit nur an wenigen Standorten, von einer flächendeckenden Versorgung sei man also meilenweit entfernt. „Darum sollte sich die Politik kümmern“, forderte der Arzt.
Medizinische Maßnahmen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten oder Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD) zielen „auf grundlegende, die Person in ihrem Wesenskern betreffende Eigenschaften und umfassen biologische ebenso wie sozial, kulturelle und individuelle Aspekte“, schreibt die BÄK in ihrer Stellungnahme.
Ein grundsätzliches Operationsverbot werde der breiten Varianz von geschlechtlichen Ausprägungen der Betroffenen nicht gerecht und entspreche nicht dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft.
Den aktuellen Erkenntnisstand legt die BÄK in ihrer Stellungnahme „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung“ dar. Darüber hinaus verweist die die BÄK auf die s2k-Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF).
Die Bundesärztekammer kritisiert insbesondere, dass sich der Referentenentwurf aus dem BMJV im Wesentlichen auf die Erfahrungen von Patienten bezieht, die in der Vergangenheit nach der „optimal gender policy“ behandelt wurden – einem Behandlungsansatz aus früheren Zeiten der längst nicht mehr dem aktuellen Wissensstand entspricht.
„Damals wurde der Chirurg gefragt, welches Genital am besten bildbar sei, und so wurde es meist umgesetzt“, erläuterte Kamrath. Es sei schlichtweg falsch, dass die Zahl solcher Eingriffe immer noch hoch sei, wie es im Referentenentwurf heißt.
Die Bundesärztekammer findet es darüber hinaus unverständlich, dass weder Kammervertreter noch ihr Wissenschaftlicher Beirat zu dem interdisziplinären Fachtag des BMJV im Vorfeld der Gesetzesinitiative eingeladen worden waren. Dabei wurden Betroffene und ihre Verbände, sowie Experten aus Medizin, Psychologie, Sozial- und Rechtswissenschaften angehört.
Geburten von Kindern mit nicht eindeutigem Genital werden nach Angaben des BMJV in Deutschland nicht statistisch erfasst. Es gebe lediglich Schätzungen: Das Bundesverfassungsgericht ging in seinem Beschluss vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) von einer Häufigkeit von einem Fall auf 500 Neugeborene aus und kam so auf 160.000 Betroffene. In der Fachliteratur werde die Häufigkeit deutlich geringer auf etwa 1 zu 4.500 bis 5.500 Geburten geschätzt.
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