Politik

Kranken­kassenbeiträge steigen deutlich, weiter Streit um Sozialausgaben

  • Mittwoch, 16. Oktober 2024
/Nuthawut, stock.adobe.com
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Berlin – Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz für das Jahr 2025 wird voraussichtlich um 0,8 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent vom beitragspflichtigen Einkommen steigen. Das prognostizierte heute der Schätzerkreis mit Fachleuten aus GKV-Spitzenverband, Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und Bundesamt für soziale Sicherung (BAS).

Der Expertenkreis rechnet mit einer Finanzlücke in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von 13,8 Milliarden Euro, wie er nach seiner Sitzung mitteilte, die erst heute zu Ende ging. Die Expertinnen und Experten arbeiteten seit Montag an den Berechnungen für das kommende Jahr. Bereits am gestrigen Dienstagabend war ein Ergebnis erwartet worden. Daher war ein Novum, dass die Entscheidung nun deutlich später verkündet wurde.

Am 1. November wird das BMG den allgemeinen Zusatzbeitrag offiziell fest­legen und im Bundesanzeiger ver­öffentlichen. Danach werden die 96 Krankenkassen ihren kassenindividuellen Beitrag festsetzen – so dass es je nach Kasse einen deutlich höheren Beitragssatz geben kann.

Allerdings fehlten den Expertinnen und Experten aus dem Schätzerkreis die Rechengröße für die Beitragsbe­messungsgrenze – diese übliche jährliche Anpassung hatte das Bundesfinanzministerium kurzfristig im Bun­deskabinett blockiert. Dabei geht es um die Frage, bis zu welcher Einkommenshöhe künftig Beiträge für die Kranken- und Sozialversicherung fällig werden – und um die Anpassung von Steuertarifen an die Inflation und das Existenz­minimum.

Der Streit zwischen dem zuständigen Bundesarbeitsministerium und Bundesfinanzministerium könnte bis An­fang November ausgeräumt sein. Dann könnte das BMG auch einen anderen allgemeinen Zusatzbeitrag festlegen.

Daher heißt es in der Mitteilung des Bundesamtes für Soziale Sicherung: „Das Bundesministerium für Gesund­heit berücksichtigt dabei auch Informationen, die erst nach dem Schätzerkreis bekannt werden und relevanten Einfluss auf den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz haben.“

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) teilte in einer ersten Reaktion mit: „Das deutsche Gesund­heitswesen ist das teuerste in Europa, weil es in vielen Bereichen nicht effizient ist.“ Eine wesentliche Ursache für die steigenden Kassenbeiträge seien im Rekordtempo steigende Ausgaben für Krankenhäuser sowie für Arz­neimittel.

„Deswegen brauchen wir die Krankenhausreform“. Diese soll am morgigen Donnerstag im Bundestag beschlos­sen werden. Es soll die Finanzierung der Kliniken im Land auf eine neue Grundlage stellen. Die Prognose des Schätzerkreises zeige die Notwendigkeit der von der Bundesregierung eingeleiteten Strukturreformen, sagte Lauterbach.

Sozialpolitischer Skandal

Die Krankenkassen kommentieren das Ergebnis der Berechnungen, in dem auch ihre Experten beteiligt sind, als „sozialpolitischen Skandal“, fordern ein Ende der „Gleichmütigkeit“ und Strukturreformen.

„Die Ergebnisse des Schätzerkreises im kommenden Jahr machen es amtlich: Das Delta zwischen Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ist so groß wie seit Jahren nicht mehr“, sagte Carola Rei­mann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, in einer ersten Mitteilung.

„Es ist ein sozialpolitischer Skandal, dass der Lückenschluss allein den Beitragszahlenden aufgehalst wird und gleichzeitig die Finanzierungsverantwortung des Bundes bei der Refinanzierung der Gesundheitskosten von Bürgergeldbeziehern ignoriert wird. So werden Arbeitgeber und Beitragszahlende gezwungen, die Einhaltung der Schuldenbremse zu finanzieren“, so Reimann weiter.

Die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, sieht einen „drastischen Erhöhungsdruck“ bei den Krankenkassen im kommenden Jahr. „Bei den meisten Krankenkassen stehen keine Reserven mehr zur Verfügung, um Beitragssteigerungen im nächsten Jahr zu vermeiden oder auch nur abzumildern. Diese sind entsprechend der gesetzlichen Vorgaben längst aufgebraucht“, so Pfeifer in einer Stellungnahme.

Sie forderte die Gesundheitspolitik auf, diesen Zustand der steigenden Beitragsätze nicht mehr „gleichmütig hinzunehmen“. Es sei „unerklärlich, dass die Gesundheitspolitik der sich immer schneller drehenden Beitrags­spirale tatenlos zuschaut. Dies gilt erst recht, da für das kommende Jahr auch eine spürbare Anhebung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung droht.“

Für den Geschäftsführer des IKK, Jürgen Hohnl, sieht in der „Dramatik“, die die nun angekündigte Beitragssteige­rung sei, „nur einen Teil der Wahrheit“. Denn wie schon im vergangenen Jahr würden kostensteigernde Gesetzes­vorhaben außen vor bleiben.

Einige der im vergangenen Jahr bei der Schätzung noch außen vor gebliebenen Reformpakete seien in diese Prognose zwar eingepreist. Gleichwohl seien der große Brocken der Krankenhausreform und die komplette finanzwirksame Auswirkung der versprochenen Entbudgetierung im hausärztlichen Bereich weiterhin offen. Daher erwartet Hohnel in den kommenden Jahren noch weitere Beitragserhöhungen.

Die Unterschätzung der Kosten aus dem vergangenen Jahr prangert auch der BKK-Dachverband in einer Mit­tei­lung an: „Im letzten Jahr hat der Schätzerkreis den durchschnittlichen kostendeckenden Zusatzbeitragssatz zu niedrig angesetzt. Hinzu kamen der gesetzlich verordnete Rücklagenabbau und eine ungebremste Ausgabendy­namik.“

Dieser Dreiklang habe dazu geführt, dass viele Krankenkassen keine Reserven mehr hätten, um die steigenden Ausgaben kompensieren zu können. Sie mussten den Zusatzbeitragssatz unterjährig anheben, viele Kassen so­gar zweimal", erklärt der Verband. Besonders viele BKKen mussten den Beitrag Mitte des Jahres erhöhen.

„Das Schlimme daran ist, dass die Beitragszahler für die höheren Beiträge keine bessere Versorgung erhalten. Eine Rechnung, die kaum Akzeptanz finden wird“, erklärt Anne Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes.

Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, sieht die Finanzen der Krankenkassen „komplett aus dem Gleichgewicht“. Die Steigerung der Kassenbeiträge auf über 17 Prozent sei „eine noch vor einigen Jahren unvorstellbare Größenordnung“.

Baas weiter: „Die Regierung hat, anders als im Koalitionsvertrag festgehalten, nichts unternommen, um die Finanzen zu stabilisieren. Im Gegenteil: Das Finanzproblem ist so groß wie nie. Das müssen nun die Beitrags­zahlenden mit deutlich höheren Beiträgen ausbaden.“

Die Krankenkassen und ihre Verbände fordern zügige Reformen, dazu gehöre ein dynamisierter Steuerzuschuss und kostendeckende Beiträge für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, sowie Vorschläge zur Kosten­dämpfung bei Arznei-, Heil- und Hilfsmittel. Dies könnte beispielsweise die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Arznei- und Hilfsmitteln auf sieben Prozent sein.

Auch müssten Strukturreformen kommen. Deutlich kritisiert wird der Plan, den Transformationsfonds aus dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz ebenfalls aus den Mitteln der GKV finanzieren zu wollen – die 25 Milliarden Euro sind in den aktuellen Berechnungen noch nicht eingepreist.

bee

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