Medizinischer Dienst: Behandlungsfehler in jedem fünften Fall ursächlich für Schaden

Berlin – Sachverständige des Medizinischen Dienstes haben im vergangenen Jahr 3.160 Behandlungsfehler von medizinischem Personal festgestellt, durch die Patienten zu Schaden gekommen sind. Insgesamt bearbeiteten die Gutachter 2023 rund viermal so viele Verdachtsfälle (12.438), wie der Medizinische Dienst Bund heute in Berlin zu seiner Jahresstatistik bekanntgab. Im Jahr zuvor waren es 13.059 Vorwürfe gewesen.
In jedem fünften Fall (2.679) war der Fehler den Gutachten zufolge auch Ursache für den erlittenen Schaden – dann besteht für die Betroffenen die Chance auf Schadenersatz. In 75 Fällen hat ein Fehler laut Auswertung zum Tod geführt (2022: 84).
Dauerhafte Schäden wurden bei knapp 30 Prozent der Betroffenen verzeichnet. Darunter fallen leichte, mittlere und schwere Dauerschäden, das Spektrum reicht beispielsweise von einer Narbe über eine chronische Schmerzsymptomatik bis hin zu Pflegebedürftigkeit, Erblindung oder Lähmungen.
In drei Viertel der Verdachtsfälle wurde festgestellt, dass kein Behandlungsfehler oder Fehler ohne Schaden vorlagen, hieß es. Der Anteil bestätigter Fälle bewege sich auf unverändertem Niveau, sagte der Vorstandschef des Medizinischen Dienstes Bund, Stefan Gronemeyer.
Die Angaben beziehen sich auf stationäre und ambulante Fälle aus Human- und Zahnmedizin sowie der Pflege.
Repräsentativ sind sie nicht. Weitere Vorwürfe werden unter anderem über Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern bearbeitet, direkt zwischen Patientenseite und Leistungserbringern beziehungsweise Haftpflichtversicherungen reguliert oder vor Gerichten verhandelt, wie der Medizinische Dienst erklärte.
Generell wird bei dem Thema von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen. Angenommen werde, dass es etwa in einem Prozent der stationären Behandlungen zu Fehlern und vermeidbaren Schäden komme, hieß es vom Medizinischen Dienst.
Meldepflicht für besonders schwerwiegende Fälle gefordert
In 151 Fällen sahen die Gutachter 2023 sogenannte Never Events, also Ereignisse, die nicht hätten passieren dürfen und die mit vorbeugenden Schritten sicher hätten verhindert werden können. Dazu gehörten zum Beispiel Verwechslungen von Patienten, der Seiten oder der Medikamente sowie im Patienten vergessenes OP-Material.
Die stellvertretende Vorstandschefin und Leitende Ärztin des Medizinischen Dienstes Bayern, Christine Adolph, nannte als Beispiel eine 39 Jahre alte Patientin, der eine Zyste entfernt werden sollte, die aber bei dem Eingriff versehentlich sterilisiert worden sei.
Gronemeyer erneuerte seine Forderung nach einer bundesweiten Meldepflicht von Never Events, um solchen Ereignissen besser vorbeugen zu können. Die Ursachen von Fehlern zu erfassen und zu analysieren, sei zentral, um die Vermeidung voranzubringen. Never Events seien zwar selten, aber sie deuteten auf unzureichende Sicherheitsmaßnahmen hin.
In vielen Ländern wie Großbritannien, den USA, Australien und etwa in der Schweiz würden solche Meldesysteme bereits erfolgreich genutzt, sagte Gronemeyer. Auch im globalen Aktionsplan der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sei als Ziel verankert, dass 90 Prozent der Länder bis spätestens 2023 ein Meldesystem für Never Events einführen sollen.
„Aus Patientensicht ist es absolut nicht hinnehmbar, dass die Politik so gut wie keine konkreten Bestrebungen zeigt, dieses wichtige Ziel in Deutschland umzusetzen“, sagte Gronemeyer. Er betonte, dass es nicht um Schuldzuweisungen und die Sanktion Einzelner gehe, sondern um die Aufarbeitung der Prozesse zu Präventionszwecken.
Daher lautet der Vorschlag, Fehler losgelöst von haftungsrechtlichen Fragen elektronisch zu erfassen. Nötig sei eine „Vertrauensstelle“, die mit Einzelheiten bekannt gemacht werden und den Fall aufklären müsse, die aber keine Daten zu betroffenen Patienten und Einrichtungen preisgeben dürfe.
Als eine mögliche Institution, die für diese Aufgabe in Frage käme, nannte Gronemeyer das Robert-Koch-Institut (RKI). Ein Vorschlag zur Art und Weise der Finanzierung einer solchen Stelle wurde auf Nachfrage nicht genannt, man gehe aber von einer möglichen schlanken Struktur aus.
Kritik an der Politik, mit einer Ausnahme
Gronemeyer bemängelte, dass nennenswerte Fortschritte bei der Verbesserung der Sicherheitskultur in Medizin und Pflege fehlten. Punktuell gebe es zwar gute Initiativen. Es fehle aber an einer systematischen Strategie für eine bessere Fehlervermeidung.
Die Politik sei leider bisher weitgehend untätig geblieben, wenn es um die nötigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Patienten gehe. Von seiner Kritik nahm Gronemeyer den Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Stefan Schwartze (SPD), ausdrücklich aus.
Mit Blick auf die Krankenhausreform sei zwar zu begrüßen, dass schwierige Eingriffe und Behandlungen künftig nur noch in Häusern mit nachgewiesener Kompetenz und Erfahrung durchgeführt werden sollen, sagte Gronemeyer.
Im Hinblick auf Faktoren wie die Sicherheit des Behandlungsablaufs und der Organisation setze die Reform aber bisher keine klaren Impulse für mehr Patientensicherheit. In der Reform fehlten im Ausland längst übliche Verfahren zur Fehlervermeidung.
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte den Umgang mit Fehlern in der Medizin scharf. „Patientinnen und Patienten werden hierzulande im Stich gelassen. Denn eine Fehlerkultur in Praxen und Pflegeheimen ist nicht existent“, teilte Vorstand Eugen Brysch mit.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) teilte mit, Kliniken und Praxen seien bereits gesetzlich verpflichtet, Fehlermeldesysteme umzusetzen. „Sowohl im vertragsärztlichen Bereich als auch in Krankenhäusern verdeutlichen Auswertungen einen hohen Umsetzungsstand von Fehlermanagement und Fehlermeldesystemen“, hieß es aus dem Ministerium.
Damit Betroffene entschädigt werden könnten, brauche es einen Härtefallfonds, wie er im Koalitionsvertrag versprochen sei. „Es kann nicht sein, dass die Geschädigten viele Jahre warten müssen, um zu ihrem Recht zu kommen“, kritisierte Brysch und forderte vom Gesundheitsminister einen Gesetzesentwurf. Das BMG teilte mit, es werde geprüft, ein Konzept für die Ausgestaltung eines Härtefallfonds in Auftrag zu geben.
Meist geht es bei den in der Jahresstatistik verzeichneten Vorwürfen um operative Eingriffe, daher bezogen sich rund zwei Drittel der Verdachstsfälle auf den stationären Bereich. Sie verteilen sich auf verschiedene Fachgebiete, wobei Orthopädie und Unfallchirurgie die höchsten Werte aufweisen. In der Pflege geht es meist um Probleme wie Druckgeschwüre, die etwa wegen falscher Lagerung von Patienten entstehen können.
Die Häufigkeit von Vorwürfen je nach Fachgebiet erlaubt aber keine Rückschlüsse auf die dortige Sicherheit oder die dortige Fehlerquote, wie Adolph betonte. „Sie zeigt lediglich, dass Patientinnen und Patienten auf Behandlungsergebnisse reagieren, wenn diese nicht ihren Erwartungen entsprechen.“ Es sei für Patienten nach einer Hüftoperation beispielsweise einfacher als nach komplexen onkologischen Behandlungen, den eigenen Zustand und die eigenen Fortschritte mit Mitpatienten zu vergleichen.
Der Medizinische Dienst ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Patienten, die den Verdacht haben, dass bei ihnen ein Behandlungsfehler vorliegt, können damit zu ihrer Krankenkasse gehen, die wiederum den Medizinischen Dienst mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragen kann. Behandlungsfehler nachzuweisen, gilt für Patienten als schwierig. Geraten wird ihnen etwa, Gedächtnisprotokolle anzufertigen.
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