Politik

Mehr Archive zu NS-Krankenakten an Krankenhäusern gefordert

  • Dienstag, 27. September 2022
Blick auf das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Gelände der ehemaligen Landesheilanstalt Stralsund am Stralsunder Krankenhaus West. Von den Nationalsozialisten wurden unter Beteiligung von Ärzten und Pflegemitarbeitern zwischen 1939 und 1940 mehr als 1.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen aus der ehemaligen Landesheilanstalt Stralsund deportiert und getötet. /picture alliance, Stefan Sauer
Blick auf das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Gelände der ehemaligen Landesheilanstalt Stralsund am Stralsunder Krankenhaus West. Von den Nationalsozialisten wurden unter Beteiligung von Ärzten und Pflegemitarbeitern zwischen 1939 und 1940 mehr als 1.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen aus der ehemaligen Landesheilanstalt Stralsund deportiert und getötet. /picture alliance, Stefan Sauer

Berlin – Um in Zukunft über die sogenannten „Euthanasie“-Morde in der Zeit des Nationalsozialismus verstärkt aufzuklären und diese Gräueltaten nicht zu verdrängen, sollten Krankenhäuser, die damals selbst Orte des Verbrechens gewe­sen sind, verstärkt entsprechende historische Archive aufbauen. Das mahnte der Arzt und Psychiater Michael von Cranach gestern bei einer Sachverständigenanhörung des Kulturausschusses im Bun­destag an.

Die öffentliche Anhörung wurde aufgrund eines Antrags der Fraktion die Linke anberaumt. Diese forderte in acht Punkten die Bundesregierung unter anderem auf, die Opfer der „Euthanasie“-Programme sowie Angehöri­gen stärker in Gedenkstätten und deren Konzeptionierung zu berücksichtigen.

Zudem sollte es einen digitalen Gedenk- und Informationsort mit der namentlichen Nennung der Opfer geben und international anerkannte Wissenschaftler sollten stärker in die Aufarbeitung der Verbrechen einbezogen werden.

Die Linke rief die Bundesregierung weiter auf, gemeinsam mit den Ländern auf ein gesetzliches Kassations­ver­bot von historischen Quellen mit Bezug zu Medizinverbrechen in der NS-Zeit hinzuwirken. So sollen histo­rische Krankenakten von solchen Verbrechen beteiligten Heil- und Pflegeinrichtungen beziehungsweise deren Nachfolgeeinrichtungen auf deutschem Gebiet vor der Zerstörung bewahrt werden.

Für Psychiater sei es besonders schmerzhaft, weil die Ermordung der Patienten durch Ärzte und Pflegefachkräfte nicht nur aufgrund der nationalsozialistischen Denkweise geschah, sondern weil dieses Phä­nomen auch schon vorher in den Psychiatrien vorhanden war, betonte von Cranach. Deshalb seien Psychia­trien bei diesem Thema ganz besonders in der Verantwortung.

In Deutschland seien die großen psychiatrischen Anstalten nach dem zweiten Weltkrieg nicht geschlossen, sondern reformiert weitergeführt worden, erläuterte von Cranach. Deshalb wäre es sehr wichtig, sowohl Kran­ken­akten als auch Verwaltungsakten aus der NS-Zeit nicht zu vernichten, sondern sie aufzubewahren.

Schwierig sei es insbesondere mit privaten, vormals staatlichen Einrichtungen. Hier gebe es noch viel Mate­ri­al, das gesichtet und gesichert werden müsse. Allerdings stünden die privaten, ökonomischen Interessen im Vordergrund.

Bei den psychiatrischen Kliniken habe es Jahre gedauert, bis der Großteil ein Bewusstsein für dieses Thema entwickelt habe, so von Cranach. Und: "Es gibt immer noch einige wenige Kliniken, die sich aus Desinteresse damit nicht beschäftigen wollen."

Krankenhäuser als Orte der Erinnerung

Von Cranach sprach sich deshalb dafür aus, die Krankenhäuser zu verpflichten, ein historisches Archiv mit entsprechender Betreuung einzurichten. Falls dies aus Kosten- oder personellen Gründen nicht möglich sei, sollten die Kliniken die Akten an ein öffentliches Archiv übergeben.

Der Mediziner sei sich bewusst, dass es kostspielig sei, ein gutes Archiv zu führen. „Kliniken, die sich aber in der Lage sehen, das zu konservieren und entsprechende Möglichkeiten haben, sollten das auch tun“, so von Cranach.

Auch Jan Erik Schulte von der Gedenkstätte Hadamar vermutet, dass noch viele entsprechende Unterlagen in den Kliniken und Einrichtungen vorhanden sind, die während der NS-Zeit Orte der „Euthanasie“ gewesen sind. Diese Akten sollten unbedingt verwahrt und auch nach einer eventuellen Digitalisierung nicht vernichtet wer­den.

Es sei außerdem sicherzustellen, dass die Krankenhäuser Nachfragen von Angehörigen beantworten und diese insbesondere bei der Aushändigung der Akte beraten und unterstützen können, betonte von Cranach. „Diese Akten sind so diskriminierend und verachtend geschrieben, dass Angehörige schockiert sind. Man muss erklären, was diese grauenvollen Begriffe bedeuten.“

Er plädierte deshalb, dass die betroffenen Krankenhäuser auch gleichzeitig Gedenkorte sein sollen, um darü­ber zu informieren, was in den Häusern vor 80 Jahren geschehen ist. „Allerdings brauchen die Psychiatrien Unterstützung und Hilfe, das auch zu verwirklichen“, betonte von Cranach.

Um die Verantwortung der Ärzteschaft deutlich zu machen, sollte zudem der Gedenkort Alt Rehse in Mecklen­burg-Vorpommern zur offiziellen Gedenkstätte werden, forderte die Vorsitzende der Bundesvereinigung Le­benshilfe, Ulla Schmidt.

Ab August 1934 „schulte“ der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund dort Ärzte, Apotheker, Hebammen und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen in Bezug auf NS-Ideologie, „Rassenhygiene“ und traf Vorberei­tungen der „Euthanasie“-Verbrechen.

Jeder junge angehende Arzt und jede junge Ärztin sei eigentlich in der Verpflichtung, sich mit der damaligen systematischen Beeinflussung auseinanderzusetzen, um als Handlanger des NS-Regimes Personen auszulesen und die Taten und Tötungen auch selbst durchzuführen, betonte Schmidt.

400.000 Zwangssterilisationen und 300.000 Tötungen

Schätzungsweise 400.000 Menschen seien zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert worden, sagte der His­toriker Wolfgang Benz gestern. Dieses staatlich verfügte Unrecht sorgte bei den Betroffenen für lebenslanges Leid.

Zudem seien in dieser Zeit rund 300.000 Menschen getötet worden. Benz empfahl, künftig nicht mehr von Opfern, sondern von Eugenikverfolgten zu sprechen, um eine Gleichberechtigung mit anderen Verfolgten des NS-Regimes zu schaffen.

Er betonte weiter, dass der Krankenmord auch genutzt wurde, um den Judenmord vorzubereiten. Personal der „Euthanasie“-Anstalten wirkten später weiter in den Mordstätten des Holocausts auf polnischem Boden mit, so Benz.

Ute Hoffmann von der Gedenkstätte Bernburg pochte auf eine verstärkte Vernetzung sowie eine bessere per­sonelle und finanzielle Ausstattung der Gedenkstätten. Den Opfern der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation sei ein entsprechender Platz in Forschung und Erinnerungskultur einzuräumen.

Und: Sie bat darum, die NS-Gutachten nicht digital zugänglich zu machen. „Das Risiko einer Fehlinterpreta­ti­on, absichtlich oder nicht, ist zu hoch“, so Hoffmann.

In Bernburg, Hadamar, Brandenburg an der Havel, Gra­fen­eck, Hartheim und Pirna-Sonnenstein waren zu NS-Zeiten sechs Tötungsanstalten für Menschen mit Behinde­rungen eingerichtet. Die ehemaligen Anstalten sind heute offizielle Gedenkstätten, die an die Opfer und das Verbrechen erinnern.

Schmidt kritisierte weiter, dass Menschen mit Behinderungen immer noch nicht offiziell als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt worden seien. Dies sei ein längst überfälliger Schritt und eine notwendige Anerkennung für die Betroffenen und Hinterbliebenen, so die SPD-Politikerin, die von 2001 bis 2009 Bundesgesundheits­minis­terin war.

Dieses Vorhaben hat sich die Ampelkoalition allerdings für die aktuelle Legislaturperiode vorgenommen. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es dazu: „Wir wollen die Opfer der ,Euthanasiemorde' und Zwangssterilisation offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen.“

Opfer erhielten lange keine Entschädigung

Bei der Tötung und Zwangssterilisation von Betroffenen waren Ärzte und Krankenpflegekräfte maßgeblich beteiligt. Die Sterilisation setzte etwa einen Antrag voraus, der auch von Amts- und Gerichtsärzten oder Lei­tern von Heil- und Pflegeanstalten gestellt werden konnte.

Die Sterilisation wurde auf Grundlage von ärztlichen Gutachten auch gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt. In der NS-Zeit waren zudem alle beamteten Ärzte verpflichtet, Personen zu melden, die an einer der im Gesetz aufgeführten „Erbkrankheiten“ litt. Dazu zählten etwa „angeborener Schwachsinn“, Schizophre­nie, erbliche Blind- und Taubheit, körperliche Behinderungen oder auch Alkoholismus.

Zwar gab es in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik ein Bundesentschädigungsgesetz zur Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Allerdings wurden die Opfer der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation und ihre Angehörigen nicht berücksichtigt.

Erst ab 1980 war eine Einmalzahlung von 5.000 Deutsche Mark möglich, allerdings unter Vorlage des Erbge­sundheitsgerichtsbeschlusses aus der NS-Zeit oder nach einem fachärztlichen Gutachten. Später konnte eine geringe monatliche Beihilfe beantragt werden.

Erst 1998 hob der Bundestag die Beschlüsse und Urteile der NS-Gerichte, die zwischen 1933 und 1945 eine Sterilisation anordneten, rechtlich mit dem NS-Zwangssterilisationsaufhebungsgesetz auf. Zuvor waren die NS-Urteile nicht spezifisch als nationalsozialistisch eingestuft worden. Die Ächtung des zugrundeliegenden NS-Gesetzes „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch den Bundestag folgte erst 2007.

Laut der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten lebten im Februar 2021 noch 49 entschädigungsberechtigte Zwangssterilisierte, im Jahr 2020 waren es noch 59. Alle beihilfe­berechtigten „Euthanasie“-Geschädigten seien bis 2021 allerdings verstorben.

Der Begriff „Euthanasie“ ist heute umstritten. Das euphemistische Wort stammt aus dem altgriechischen und bedeutet so viel wie „schöner Tod“.

cmk

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