Sachverständigenrat: Krisenfestigkeit des Gesundheitssystems deutlich ausbaufähig

Berlin – Das deutsche Gesundheitssystem muss aus Sicht des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege deutlich besser auf Krisen wie Pandemien oder Folgen des Klimawandels vorbereitet werden.
Die Selbstwahrnehmung eines gut organisierten Systems sei „trügerisch“, warnte heute der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Ferdinand Gerlach, anlässlich der Übergabe des Gutachtens „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“ an die Bundesregierung.
Das deutsche Gesundheitswesen sei ein „behäbiges Schönwettersystem“, das unter anderem an unzureichender Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen, einer noch immer unzulänglichen Digitalisierung sowie einem „formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis“ leide, sagte Gerlach.
Aus den aktuellen krisenhaften Erscheinungen seien keine ausreichenden Schlüsse gezogen worden – dabei gebe es weniger ein Erkenntnisproblem als Daten- und Umsetzungsdefizite.
Der Ratsvorsitzende betonte aber ausdrücklich, dass dies nicht als Kritik an den nicht zuletzt im Zuge der Pandemiebewältigung hochengagierten Akteuren in den Praxen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder auch Apotheken verstanden werden sollte.
Klar sei aber, dass für eine ausreichende strukturelle Widerstandsfähigkeit unter anderem die überfälligen Strukturänderungen in der Krankenhausversorgung angegangen sowie die Bund-Länder-Zusammenarbeit „deutlich“ verbessert werden müssten.
Auch müsse der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) umfangreicher ausgestattet werden. Das geplante ÖGD-Bundesinstitut könne als „Plattform“ für Datenerfassung- und auswertung sowie Koordination und Kommunikation wertvolle Beiträge liefern.
Für viele Bereiche gebe es zudem bereits gute Analysen und Konzepte – etwa Pandemie- oder Hitzepläne. Sie verstaubten aber oft in Schubladen anstatt konsequent umgesetzt und eingeübt zu werden, so der Sachverständigenrat.
Vorhandene Institutionen, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), hingen organisatorisch „in der Luft“ und hätten wenig bis keine Durchgriffsmöglichkeiten, kritisierte Gerlach.
Weitreichende Ansätze erforderlich
Da krisenhafte Herausforderungen in Art und Auswirkung eben nicht sicher vorhersagbar seien und gleichzeitig oder gehäuft auftreten könnten sowie viele Lebensbereiche betreffen, müsse den Sachverständigen zufolge zum einen ein All-Gefahren-Ansatz („all hazards approach“) verfolgt werden.
Zum anderen solle im Hinblick darauf, dass Gesundheit von vielen anderen Lebens- und damit Politikbereichen – etwa Umwelt, Arbeit, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Wirtschaft und Bildung – beeinflusst wird, das ressortübergreifende Prinzip „Health in All Policies“ gestärkt werden.
Dies gelte insbesondere für den Umgang mit den zu erwartenden Folgen des Klimawandels, betonte Ratsmitglied Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke. Unter anderem müssten Gesundheitseinrichtungen Klimaanpassungsmaßnahmen umsetzen – der Aspekt spiele aber auch bei der Stadtentwicklung eine wichtige Rolle.
Im Zusammenhang mit dem Klimawandel, Gerlach bezeichnete ihn als absehbar „größte Gefahr für die Gesundheit“, verweist der Sachverständigenrat zudem auf die Notwendigkeit verbesserter Monitoringsysteme bezüglich der Auswirkungen von Hitzewellen, eine Optimierung der entsprechenden Kommunikation sowie die Einbindung der Thematik in die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Heilberufen.
Ratsmitglied Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld äußerte sich zu einem weiteren im Gutachten analysierten Aspekt: Der materiellen Versorgungssicherheit mit beispielsweise Arzneimitteln. Wichtige Punkte seien die Stärkung der Lieferketten, die Sicherung von Produktionskapazitäten oder auch eine ausreichende Bevorratung.
Was aktuell politisch diskutiert werde, gehe „in die richtige Richtung“ – man dürfe sich allerdings nicht auf einzelne Medikamente beschränken, sondern müsse sich mit der Gesamtproblematik verstärkter Engpässe auseinandersetzen. Grundsätzlich gebe es für umfassende Anpassungen im Gesundeitssystem derzeit ein „window of opportunity“. Dieses müsse genutzt werden, betonte Greiner.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte heute, die Coronapandemie habe gezeigt, dass das Gesundheitswesen widerstandsfähiger werden muss. Das Gutachten gebe „Rückenwind für die geplanten schwierigen, aber dringend notwendigen Reformen“.
„Wir ordnen die Krankenhausstruktur neu, machen Arzneimittelversorgung sicherer, sorgen mit niederschwelligen Angeboten für gute Medizin für alle. Und wir ziehen Lehren aus der Pandemie“, so Lauterbach. Zu diesen Themen bleibe er mit dem Sachverständigenrat im Austausch.
Dieser wird demnächst personell neu besetzt werden: Ende Januar 2023 endet die Amtszeit der derzeitigen sieben Mitglieder des Sachverständigenrats. Mehrere aktuelle Mitglieder – unter anderem Gerlach – kündigten bereits an, nicht für eine nochmalige Berufung zur Verfügung zu stehen.
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