Politik

Sexueller Missbrauch: Gutachter sehen Angst vor Anzeige von Fällen

  • Donnerstag, 18. März 2021
Kardinal Rainer Maria Woelki (M), Erzbischof von Köln, nimmt an einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch teil./picture alliance, Ina Fassbender
Kardinal Rainer Maria Woelki (M), Erzbischof von Köln, nimmt an einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch teil./picture alliance, Ina Fassbender

Köln – In Köln haben Gutachter heute die Ergebnisse einer bislang unveröffentlichten Untersuchung zum Umgang des Erzbistums Köln mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs vorgelegt. Der Strafrechtler Björn Gercke hatte Hinweise auf 202 Beschuldigte festgestellt. Das sagte er bei der Vorstellung der 800 Seiten starken Untersuchung in Köln.

Es gehe um das erste Gutachten dieser Art, in dem ungeschwärzt auch die Namen von Verantwortlichen genannt würden, sagte Gercke. Zusammen mit seinem Team hat er in den vergangenen Monaten die Kirchenakten von 1975 bis 2018 ausgewertet.

Die Opfer waren demnach mehrheitlich Jungen. Bei 63 Prozent der Beschuldigten handele es sich um Kleriker, also Priester. In knapp 32 Prozent der Fälle habe es sich um sexuellen Missbrauch gehandelt, in gut 15 Prozent um schweren sexuellen Missbrauch. Die anderen Fälle stuft Gercke unter anderem als Grenzverletzungen und sonstige sexuelle Verfehlungen ein.

Die Auswertung der Akten von 1975 bis 2018 habe unter anderem ergeben, „dass sich Jahrzehnte offen­bar niemand getraut hat, solche Fälle zur Anzeige zu bringen“, kritisierte er. „Im Erzbistum Köln gab es immer wieder Bestrebungen von einzelnen Verantwortungsträgern, Fälle sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen.“

Man sei bestrebt gewesen, sie nicht an „die große Glocke“ zu hängen, um Reputationsschaden von der Kirche abzuwenden. Dabei stellte Gercke klar, dass das Erzbistum Köln kein Einzelfall sei: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie bei diesen Maßstäben in Deutschland ein Bistum finden, in dem wir keine Pflichtver­letzungen festgestellt hätten.“

Ein erstes Gutachten einer Münchner Kanzlei war von Woelki unter Verschluss gehalten worden, wofür er rechtliche Bedenken anführte. Dieses Verhalten Woelkis hatte eine Vertrauenskrise im Bistum ausgelöst. Woelki wurde von Gercke nun allerdings ausdrücklich in Schutz genommen.

„Medial wäre es für uns am einfachsten gewesen, Herrn Woelki hier zum Schafott zu führen“, sagte der Strafrechtler. Dafür gebe es aber keine Grundlage. Auch in dem zurückgehaltenen Münchner Gutachten sei Woelki nicht belastet worden, was die Kanzlei der Referentin des Kardinals schon im vergangenen Frühjahr mitgeteilt habe. „Wenn der Kardinal wirklich etwas bezüglich seiner eigenen Person zu vertu­schen gehabt hätte, hätte er das Münchner Gutachten durchwinken können“, sagte Gercke. Dann hätte er „seine Ruhe gehabt“.

Versäumnisse sah Gercke dagegen bei Woelkis Vorgänger Joachim Meisner (1933-2017). Auf dessen Konto gehe ein Drittel aller festgestellten Pflichtverletzungen, mehr als 20. Weitere Pflichtverletzungen wurden bei Meisners Vorgänger Kardinal Joseph Höffner (1906-1987) festgestellt. Dieser war von 1976 bis 1987 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße ist in dem Gutachten zum Umgang mit Missbrauchs­vorwürfen der elffachen Pflichtverletzung beschuldigt worden. Dabei handele es sich unter anderem um Verstöße gegen die Melde- und Aufklärungspflicht.

Woelki zog heute Konsequenzen aus dem Gutachten, indem er zwei hohe Würdenträger seines Bistums, den Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und den Offizial Günter Assenmacher, vorläufig von ihren Aufgaben entband. „Nicht für alle hier Genannten bin ich zuständig“, sagte Woelki. „Bei einem Erzbischof und bei einem Weihbischof muss der Heilige Stuhl entscheiden.“ Mit dem Erzbischof meinte er Heße.

Weihbischof Schwaderlapp teilte mit, dass er Papst Franziskus bereits seinen Amtsverzicht angeboten habe. „Ich bitte Papst Franziskus um sein Urteil“, so Schwaderlapp. „Ich kann nicht Richter in eigener Sa­che sein.“ Auch Heße hatte schon im November angekündigt, er wolle Rom prüfen lassen, ob die Unter­suchungsergebnisse „Auswirkungen auf mein Amt als Erzbischof in Hamburg haben“. Bisher hat Heße alle Vorwürfe bestritten. Der heutige Erzbischof von Hamburg war früher Personalchef und Generalvikar im Erzbistum Köln. Auf diese Zeit beziehen sich die Vorwürfe.

Der Kirchenrechtler Thomas Schüller kritisierte das Gutachten. Es sei zwar gut, dass einige Verantwort­liche, die Pflichtverletzungen begangen hätten, in der Untersuchung identifiziert würden. Doch gleich­zeitig gelte: „In weiten Teilen wirken die Ausführungen eher wie eine Verteidigungsrede, weil mit nicht überzeugender Rechtsunkenntnis operiert wird und somit Vertuscher exkulpiert werden“, sagte Schüller.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, bezeichnete das Ausmaß der Vorwürfe als „erschreckend“. Er sei froh, dass die „Zeit des unerträglichen Wartens“ auf die Untersuchung nun ein Ende habe, erklärte Rörig.

dpa

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