Vermischtes

Boehringer leitet rechtliche Schritt gegen Arzneimittel­bewertung ein

  • Dienstag, 29. August 2023
/picture alliance, Andreas Arnold
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Ingelheim – Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim wehrt sich gegen die Bewertung eines neuen Medika­ments gegen eine seltene Krankheit und mahnt flexiblere Prüfungen in Deutschland an.

Der Pharmabranche werde oft vorgeworfen, sich zu wenig um seltene Krankheiten zu kümmern, sagte die Deutschlandchefin des Unternehmens, Sabine Nikolaus. Wenn dies getan werde, werde aber zu starr geprüft. Das könne verhindern, dass unter seltenen Krankheiten leidende Patienten Zugang zu neuen Behandlungs­möglichkeiten bekämen.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte entschieden, dass er bei dem von Boehringer entwickelten Präparat Spevigo zur Behandlung akuter Schübe von generalisierter pustulöser Psoriasis – einer seltenen Hauterkrankung – keinen Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Therapien sieht.

Das hat in den Preisverhandlungen mit den Krankenkassen zumeist niedrige Preise zufolge. Boehringer kün­digte daher an, Spevigo vom Markt zu nehmen. Das Arzneimittel sei von heute an nicht mehr in Deutschland erhältlich, hieß es vom Unternehmen.

Den G-BA-Beschluss will das Unternehmen gerichtlich anfechten. Der G-BA ist verpflichtet, für neu zugelassene Arz­nei­mittel mit neuen Wirkstoffen nach Markteintritt eine Nutzenbewertung durchzuführen.

Geprüft wird, ob das Medikament gegenüber der Standardtherapie Vorteile hat. Das Ergebnis ist Grundlage für die Entscheidung, wie viel die gesetzliche Krankenversicherung für das neue Arzneimittel zahlt. Ob Ärzte ein Medikament verordnen, ist nicht von der Bewertung abhängig. Sehr wohl beeinflusse die Bewertung aber den Stellenwert eines Mittels in der Gesundheitsversorgung, sagte Nikolaus.

Die pustulöse Psoriasis betrifft in Deutschland nach Angaben von Boehringer nicht einmal 300 Patienten. Ent­sprechend schwer sei die Realisierung klinischer Studien, sagte Nikolaus. Diese könnten gar nicht all die Para­meter liefern, die der G-BA verlange. Es brauche mehr Flexibilität bei der Bewertung. „Innovationen sind in Deutschland oft Opfer starrer Prozesse und Vorgaben.“

Boehringer verweist darauf, dass Spevigo in den USA und Europa zugelassen sei, in Frankreich etwa sei auch ein Zusatznutzen erkannt worden. In dem G-BA-Beschluss zu Spevigo vom 20. Juli 2023 heißt es, ein Zusatz­nutzen sei nicht belegt, es lägen keine bewertbaren Daten vor.

Nikolaus forderte, der G-BA müsse verpflichtet werden, verfügbare Studien mit einzubeziehen – auch wenn diese nicht alle Parameter großer Studien lieferten. Auch komme die Perspektive der Patienten zu kurz. Bei der Nutzenbewertung müssten neben medizinischen Fachgesellschaften Patientenverbände stärker eingebunden werden. Deutschland verliere durch „inadäquate Nutzenbewertungen“ von Innovationen insgesamt weiter an Wett­bewerbsfähigkeit.

Von Seiten des G-BA hieß es, in den Prüfungen zum Zusatznutzen eines neuen Arzneimittels würden immer alle Studien einbezogen, die von dem Hersteller vorgelegt würden. „Bei Spevigo war die im Dossier des Her­stellers vorgelegte Studie allerdings ungeeignet, daraus Aussagen zum Zusatznutzen abzuleiten“, sagte der unparteiische Vorsitzende, Josef Hecken. Der G-BA habe sich ausführlich mit der Studie befasst, habe letztlich aber zu keinem anderen Ergebnis kommen können, da die Studie insgesamt zu kurz aufgesetzt gewesen sei.

Aussagekräftige Studien seien auch bei kleinen Patientengruppen möglich, das habe die Pharmaindustrie schon gezeigt. Der G-BA prüfe auch, ob ein Arzneimittel aus Sicht der Patienten die Lebensqualität verbessere. In dem konkreten Fall habe auch die Patientenvertretung dem Beratungsergebnis zugestimmt. Die Entschei­dung, das Mittel vom Markt zu nehmen, werde aus wirtschaftlichen Interessen getroffen. „Das ist legitim, aber Grund ist letztlich das Fehlen aussagekräftiger Studien und keinesfalls eine zu rigide Prüfpraxis des Gemeinsamen Bundesausschusses“, sagte Hecken.

Auch der GKV-Spitzenverband, der die Interessen der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen vertritt, vertei­digte die Nutzenbewertung. Sie solle früh mehr Transparenz zum therapeutischen Zusatznutzen schaffen, „um eine an Qualitätsaspekten ausgerichtete Versorgung zu sichern“. Auch der Verband hält bei Spevigo einen Zu­satznutzen für nicht belegt. „Im weltweiten Vergleich gehört Deutschland zu den Ländern, in denen die Bevöl­kerung am frühesten und umfänglichsten Zugang zu neu zugelassenen Arzneimitteln hat“, sagte Sprecher Jens Ofiera. Die frühe Nutzenbewertung leiste einen wichtigen Beitrag zur qualitativen Verbesserung der Arzneimittelversorgung.

dpa

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