Vermischtes

Förderung von Selbstregulations­kompetenzen für Kinder und Jugendliche empfohlen

  • Mittwoch, 11. September 2024
/drubig-photo, stock.adobe.com
/drubig-photo, stock.adobe.com

Berlin ­– Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt die Selbstregulationskompetenzen von Kindern und Jugendlichen in Kindertagesstätten und Schulen zu stärken, als eine „Leitperspektive“ im deutschen Bildungssystem.

Eine interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe aus den Fächern Psychologie, Psychiatrie, Kinder- und Jugend­psychiatrie, Kinder- und Jugendmedizin, Bildungsforschung, Philosophie des Geistes, Ethik, Sportwissenschaft, Informatik und Statistik stellte heute bei einem Pressegespräch die entsprechende Stellungnahme vor.

„Eine konsequente und nachhaltige Förderung der Selbstregulationskompetenzen kann die lebenslange Ent­wicklung und die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen entscheidend verbessern – mit gro­ßem Nutzen für unsere Gesellschaft“, sagte Leopoldina-Mitglied Herta Flor vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und Sprecherin der Arbeitsgruppe.

Selbstregulationskompetenzen umfassen der Professorin zufolge kognitive, emotionale, motivationale und soziale Fähigkeiten, die es erlauben, eigene Ziele zu erreichen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Die Selbstregulationskompetenzen von Kindern und Jugendlichen seien entscheidend für ihr Wohlergehen, insbesondere ihre psychische und körperliche Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe.

Aber viele junge Menschen ständen vor erheblichen Herausforderungen wie psychischen und körperlichen Problemen, Zukunftsängsten und Schulschwierigkeiten. „Selbstregulationskompetenzen wirken hier präventiv und als Schutzfaktor. Sie steigern die Selbstwirksamkeit und ermöglichen es allen jungen Menschen ihr indi­vi­duelles und soziales Potenzial zu entfalten“, erläuterte Flor.

„Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene sind sehr stark psychisch belastet“, sagte Jörg M. Fegert, Ärzt­licher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm und Mitglied der Arbeitsgruppe. Das habe aktuell auch der Bericht der Lancet Psychiatry Commission on youth mental health gezeigt (Lancet 2024; DOI: 10.1016/S2215-0366(24)00163-9).

Die Europäische Union verfasse auf allen Ebenen Stellungnahmen zur „Mental Health Crisis“ junger Men­schen. In Deutschland werde eher wenig getan, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater. Auch mit der Folge, dass aktuellen Studien zufolge mehr als ein Fünftel aller 15-Jährigen gemobbt werde, Kinder und Jugendliche sich zu wenig bewegten, Deutschland Schlusslicht bei der Bildungsgerechtigkeit sei, und die letzte Pisa-Studie die schlechtesten Ergebnisse jemals hervorgebracht habe.

„Deshalb ist es wichtig jetzt breit anzusetzen, nicht nur im Ausbau der psychotherapeutischen und psychia­tri­schen Versorgung für Kinder und Jugendliche, sondern bereits in Kitas und Schulen mit der Förderung ihrer psychischen Gesundheit“, sagte Fegert. Die im vergangenen Jahr von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) an 100 Schulen initiierten „Mental Health Couches“ seien „nur ein Tropfen auf den heißen Stein“ ge­wesen. „Politisch wurde die Dimension des Problems verkannt“, so der Arzt.

„Wir empfehlen in unserer Stellungnahme einen breiten Ansatz an Kitas und Schulen, weil dort alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden“, sagte Ulrich Trautwein, Professor für Empirische Bildungsforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ebenfalls Mitglied der Arbeitsgruppe. Selbstregulationskompetenzen müssten in Schulen im normalen Unterricht eingeübt werden, forderte er.

Achtsamkeits- und körperorientierte Ansätze und strukturierte Interventionsprogramme seien vorhanden und würden an einigen wenigen Schulen bereits erfolgreich in das Curriculum integriert. Auch für Kitas gebe es gute Spiele, die die Selbstregulationskompetenzen förderten. „Das komplette Freispiel ist nicht immer gut“, ergänzte er.

In der Stellungnahme werden zahlreiche wissenschaftlich fundierte Strategien vorgestellt, die in Kindertages­stätten und Schulen eingesetzt werden können. Diese richten sich einerseits auf die Weiterentwicklung von Lern- und Entwicklungsumgebungen in Richtung effektive Klassenführung, kognitive Aktivierung und kons­truktive Unterstützung.

Andererseits umfassen sie spezifische Programme, die auf unterschiedlichen Ansätzen beruhen: der Förderung von Kenntnissen über psychische Gesundheit, Methoden der Verhaltenstherapie und der kognitiven Verhal­tens­therapie, Achtsamkeit und Mitgefühl sowie Körperübungen. Auch digitale Technologien können demnach die Förderung unterstützen.

Die Autorinnen und Autoren betonen außerdem, dass zahlreiche systemische Veränderungen erforderlich seien, um das Wohlergehen und die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. Dazu gehörten eine angemessene sozioökonomische Förderung von Familien und Verbesserungen in Kinder­tageseinrichtungen und Schulen, ebenso der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor problematischer In­ternetnutzung und Werbung.

Die Autoren beschreiben in der Stellungnahme verbreitete psychische Störungen sowie Ursachen körperlicher Probleme, gehen auf die erheblichen Bildungsdefizite junger Menschen und ihre Möglichkeit zur gesellschaft­lichen Teilhabe ein. Als Risikofaktoren erweisen demnach ein niedriger sozioökonomischer Status, Flucht- und Zuwanderungshintergrund, Gewalt- und Mobbingerfahrungen sowie digitale Medien und Techniken.

Die Stellungnahme betont schließlich, dass eine solche Weiterentwicklung des deutschen Bildungssystems die Kooperation aller Beteiligten erfordert, etwa Schülerinnen und Schüler, Eltern, Bildungseinrichtungen, Aus-, Weiter- und Fortbildungseinrichtungen für Bildungsfachkräfte, Beratungsgremien, Politik, Verbände, Gewerkschaften und Forschungseinrichtungen.

„Es braucht ein klares Bekenntnis von allen, dass wir Selbstregulationskompetenzen fördern wollen“, betonte Bildungsforscher Trautwein. Die entsprechenden Bundesministerien müssten hierzu zusammenarbeiten und die Kultusministerien der Länder klare Signale setzen. „Langfristig können wir es uns nicht leisten, Bildung und psychische Gesundheit unserer Kinder nicht ernst zu nehmen“, sagte er.

PB

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung