Systemwechsel zum Herz-Kreislauf-Tod könnte zu mehr Organspenden beitragen

Berlin – Durch einen Systemwechsel vom Hirntod zum Herz-Kreislauf-Tod können in einigen unserer Nachbarländer deutlich mehr Patienten von einer Organspende profitieren. Darauf hat Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), anlässlich des Tags der Organspende hingewiesen.
„Tatsächlich ist die Organspende nach Herz-Kreislauf-Tod in vielen anderen europäischen Ländern inzwischen zum Standard geworden und macht einen nicht unerheblichen Anteil bei den durchgeführten Organspenden aus“, sagte Rahmel dem Deutschen Ärzteblatt.
Beispielhaft nannte er Länder wie Spanien, Belgien, die Niederlande und die Schweiz. Mit der Lösung könne zudem bei weitaus mehr Verstorbenen der Wunsch zur Organspende umgesetzt werden.
Rahmel sieht bei der Organspende kleine Fortschritte, die aber noch nicht den großen Unterschied machen. In den deutschen Entnahmekrankenhäusern würden inzwischen zwar mehr Meldungen zu möglichen Organspenden eingehen, es sei in den vergangenen Jahren allerdings nicht zu einer höheren Anzahl an Spenden gekommen. Die Menge der Organspenden variiere von Jahr zu Jahr, bliebe insgesamt aber auf einem niedrigen Niveau.
„Die aktuelle bundesweite Entwicklung lässt wenig Hoffnung auf eine längst notwendige Trendwende für die fast 8.400 Menschen auf den Wartelisten“, erklärte der Medizinische Vorsitzende der DSO. In den ersten vier Monaten 2024 habe es 19 Organspender weniger gegeben als im Jahr zuvor.
Als Herausforderung für die Spenden betrachtet Rahmel unter anderem das steigende Alter der gemeldeten und realisierten Organspender. Er stellte klar, dass Organspendeprozesse häufig wegen medizinischer Kontraindikationen oder unzureichender Spenderorganqualität abgebrochen werden müssten. Die meisten Organspenden seien jedoch im Jahr 2023 erneut an einer fehlenden Zustimmung gescheitert, sagte er.
Widerspruchslösung ein Baustein
Die DSO spricht sich deshalb für die Widerspruchsregelung aus. Das im März eingeführte Organspenderegister bildet Rahmel zufolge eine wichtige Grundlage dafür. „Die Widerspruchsregelung könnte helfen, eine Kultur der Organspende zu fördern, wie sie uns andere Länder bereits voraushaben“, erklärte er.
„Sie wäre ein klares Signal, dass Gesellschaft und Politik hinter der Organspende stehen und würde eine Basis für einen positiven und selbstverständlicheren Umgang mit dem Thema Organspende schaffen – sowohl in der Bevölkerung als auch in den Kliniken“.
Bislang liege nur bei 15 Prozent der potenziellen Organspender ein schriftlicher Wille in Form eines Organspendeausweises oder einer Patientenverfügung vor, so Rahmel. Angehörige müssten im Ernstfall nach dem Willen des Verstorbenen oder den eigenen Wertvorstellungen entscheiden. „In der Ungewissheit geben sie in acht von zehn Gesprächen keine Zustimmung zur Organspende“, erklärte der Vorsitzende der DSO.
Dabei stünden laut Umfragen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung hinter der Organspende. „Damit gehen möglicherweise wertvolle Lebenschancen für die Patienten auf den Wartelisten verloren“, sagte Rahmel. Er machte deutlich, dass die bisher umgesetzten Maßnahmen und Reformen noch nicht ausreichten.
Länder und Ärztekammern plädieren für Widerspruchslösung
Für die Einführung der Widerspruchsregelung sprachen sich auch zahlreiche weitere Verantwortliche aus den Gesundheitsministerien, Ärztekammern und Organisationen aus. Einige Bundesländer hatten sich kürzlich zusammengeschlossen, um einen gemeinsamen Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes zu planen.
„Mit der Einführung der Widerspruchslösung würde die Organspende zum Normalfall“, sagte die Gesundheitsministerin aus Mecklenburg-Vorpommern, Stefanie Drese (SPD). „Die Entscheidung bliebe jedoch nach wie vor jeder und jedem selbst überlassen. Sie ist aber, wenn keine Spende gewünscht ist, nachvollziehbar und bindend festgehalten“, betonte sie. Mit der Beteiligung an dem Gesetzentwurf wolle man einen erneuten Anlauf zur Einführung der Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz nehmen, so Drese.
Auch Hessen hatte sich der Gesetzesinitiative angeschlossen, damit sich die Bundesregierung erneut mit der Regelung zur Organspende auseinandersetzt. „Die Widerspruchslösung kann ein Weg sein, die Bürgerinnen und Bürger aktiver in die Rolle zu bringen, sich zu informieren und dann für oder gegen eine Entnahme von Organen zu entscheiden“, sagte die hessische Gesundheitsministerin Diana Stolz (CDU). Ungeachtet dessen, ob es zu einer Widerspruchslösung komme oder die aktuell geltende Zustimmungsregelung bestehen bleibe, sei die Information der Menschen sehr wichtig, so Stolz.
Die Bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach machte auf die Diskrepanzen zwischen den benötigten Organspenden und den tatsächlichen Spenden in Bayern aufmerksam. In Bayern würden derzeit rund 1.200 Menschen auf ein Spenderorgan warten, zwischen Januar und Mai sei es allerdings nur zu 50 postmortalen Spenden gekommen. „Auch wenn pro Spender in der Regel mehrere Organe vermittelt werden können, ist diese Lücke sehr bedrückend“, betonte Gerlach am Freitag. „Ich bin deshalb für eine Widerspruchslösung, weil Organspende dann der Normalfall wäre. Wer zu Lebzeiten selbst für Klarheit sorgt, nimmt seinen Angehörigen die Last einer Entscheidung in schweren Stunden.“
„Die Zahlen könnten deutlich besser sein, wenn sich jede und jeder von uns rechtzeitig Gedanken zur eigenen Spendenbereitschaft machen würde“, sagte auch der Präsident der Ärztekammer Hamburg, Pedram Emami. Dass bei der Organspende insgesamt neue Wege gegangen werden müssten, fand auch Birgit Wulff, Vizepräsidentin der Kammer.
„Deswegen begrüßen wir den Vorschlag von Gesundheitsminister Lauterbach, künftig Nieren-Überkreuzspenden von Lebendspenderinnen und -spendern zu erlauben. Das trägt hoffentlich dazu bei, die Anzahl gespendeter Nieren zu erhöhen“, sagte sie. Kritisch betrachtet die Ärztekammer Hamburg den Vorstoß, anonyme Lebendnierenspenden zuzulassen. Dabei fehle das Näheverhältnis zwischen spendender Person und dem Empfänger des Organs, lautet die Begründung.
Die Sächsische Landesärztekammer hatte ihre Forderung nach einer Einführung der Widerspruchslösung erneuert. „Wir müssen einerseits stärker über das Thema Organspende aufklären, damit noch mehr Menschen aktiv eine Entscheidung treffen und schriftlich festhalten“, betonte Erik Bodendiek, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer. „Andererseits fordern wir seit Jahren die Einführung einer Widerspruchslösung, um Menschen, die ein Organ benötigen, helfen zu können“.
Das Berliner Bündnis für Organspende (BBO) hatte am 10. April ein Positionspapier zur Widerspruchslösung veröffentlicht. Darin wird auf die Notwendigkeit der Regelung aufmerksam gemacht und die Bundesregierung dazu aufgefordert, dem Bundesrat unverzüglich einen Gesetzesentwurf zur Einführung der Widerspruchsregelung in Deutschland vorzulegen. Neben Vertretern des BBO hatten das Positionspapier rund 150 weitere Unterstützer unterschrieben, darunter Experten aus dem Gesundheitswesen und Betroffene.
„Dass in Deutschland so viele Menschen leiden und sterben, obwohl wir das verhindern könnten, ist ein Skandal“, betonte Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin. „Dies ist insbesondere deshalb tragisch, weil die meisten Deutschen der Organspende positiv gegenüberstehen. Sie dokumentieren ihren Willen jedoch häufig nicht“. Die Einführung der Widerspruchsregelung könne diese Problematik aufheben.
Organimport aus Eurotransplantländern
Für die Widerspruchslösung plädierte auch die Deutsche Herzstiftung. „Wir sehen weiterhin die Einführung der Widerspruchslösung – auch aufgrund der Erfolge anderer europäischer Länder nach deren Einführung – als die entscheidende Maßnahme, um endlich in Deutschland die Situation der Organspende nachhaltig zu verbessern“, erklärte Jan Gummert, Vorstand der Deutschen Herzstiftung und Direktor der Klinik für Thorax- und Kardiovaskularchirurgie am Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen.
„Wir befürworten ausdrücklich die Initiative des Bundesrats, der die Bundesregierung durch einen Entschließungsantrag aufgefordert hat, die Widerspruchslösung in das Transplantationsgesetz aufzunehmen“, betonte Gummert.
Er machte auch darauf aufmerksam, dass Deutschland derzeit von Organimporten aus Eurotransplant-Ländern profitiere, die die Widerspruchsregelung bereits eingeführt hätten. Dieser Import sei moralisch fragwürdig, solange sich Deutschland gegen eine Widerspruchslösung entscheide, verdeutlichte Gummert.
„In vielen Teilen der Bevölkerung fehlt leider das Selbstverständnis dafür, dass eine Organspende nach dem Tod eines Menschen das Leben eines anderen Menschen rettet“, betonte der Herzchirurg. „Wir brauchen daher in Deutschland einen Kulturwandel bei der Organspende. Die Widerspruchslösung wäre ein möglicher Schritt dahin“.
Der Tag der Organspende findet in diesem Jahr unter dem Motto „Zeit, Zeichen zu setzen“ statt. Bundesweit rufen die Initiatoren am kommenden Samstag dazu auf, sich mit der Organspendefrage zu beschäftigen und die Entscheidung schriftlich festzuhalten.
Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im Vorfeld des Organspendetages dazu aufgefordert. Er nutzte zudem die Gelegenheit, auf das neu eingeführte Organspenderegister aufmerksam zu machen: „Zeigen Sie Solidarität mit den Menschen auf den Wartelisten und tragen Sie sich ins Organspenderegister ein“, sagte er. Seit der Einführung im März hätten sich bereits 120.100 Menschen registrieren lassen.
„Langfristig sollten wir es den Menschen, die Organe spenden wollen, noch einfacher machen, indem nur diejenigen, die keine Spender sein wollen, sich in das Register eintragen. Mit einer solchen Widerspruchslösung würden wir sehr vielen Menschen das Leben retten“, betonte Lauterbach.
Neben der zentralen Veranstaltung zum Tag der Organspende, die in diesem Jahr in Freiburg stattfinden wird, macht die Aktion „Geschenkte Lebensjahre“ unter der Schirmherrschaft von Lauterbach auf die Organspendesituation in Deutschland aufmerksam. Organempfängerinnen und -empfänger halten dabei Schilder mit der Anzahl an Lebensjahren hoch, die sie durch die Organtransplantation gewonnen haben.
Der Tag der Organspende wurde 1983 von Selbsthilfegruppen initiiert, um auf den Organmangel aufmerksam zu machen und die Bevölkerung für die Thematik zu sensibilisieren.
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