Wie verbreitet sind patriarchale Strukturen in der Wissenschaft?

New Haven/New York – Das Patriarchat setzt sich weiterhin in der Wissenschaft durch. Das bestätigte erst kürzlich wieder eine Querschnittsstudie aus den USA: Zwar hat sich die Zahl der leitenden Forschenden, die drei oder mehr Zuschüsse für Forschungsprojekte des National Institutes of Health (NIH) erhalten hatten, zwischen 1991 und 2020 verdreifacht, weibliche und vor allem Schwarze Forschende waren in dieser Gruppe aber deutlich unterrepräsentiert (JAMA Network Open, 2023; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2023.0855).
So erhielten Frauen und Schwarze in leitenden Forschungspositionen deutlich seltener die Chance drei oder mehr Zuschüsse für Forschungsprojekte zu bekommen, als ihre männlichen und weißen Kollegen – und zwar unabhängig ihrer bisherigen Karriere und ihres Abschlusses.
Die adjustierte Odds Ratio (aOR) lag in den Jahren 2015 bis 2020 bei 0,66 (95-%-Konfidenzintervall (KI) 0,64-0,68) zugunsten der Männer. Und das hat sich seit den 1990ern nicht verbessert (aOR: 0,6, 95-%-KI: 0,56-0,65). Noch schlechter war das Chancenverhältnis zwischen weißen und Schwarzen Forschenden: Anfang der 1990er lag es bei 0,28 (95-%-KI: 0,16-0,47); 2015-2020 stieg es auf 0,51 (95-%-KI: 0,42-0,61).
Schwarze Frauen hatten die geringste Chance
Besonders drastisch zeigte die Studie auch intersektionale Diskriminierung: Schwarze Forscherinnen hatten im Vergleich zu männlichen weißen Forschenden trotz gleichem Abschluss erheblich geringere Chancen, mindestens drei Zuschüsse zu erhalten. Die aOR lag im gesamten Untersuchungszeitraum von 1991 bis 2020 bei nur 0,05 (95-%-KI: 0,00-0,39). Weiße Forscherinnen hatten dagegen bereits deutlich bessere Chancen, sich gegen einen männlichen weißen Kollegen durchzusetzen (aOR, 0,63; 95-%-KI: 0,58-0,68).
Das Forschungsteam um Erstautorin Mytien Nguyen von der Yale School of Medicine, New Haven und Seniorautor Dowin Boatright von der New York University Grossman School of Medicine bilanzieren eine wachsende Kluft unter NIH-Forschenden. Diese sei durch gutfinanzierte NIH-Forschende hervorbracht worden. Die NIH müsse den Einfluss dieser Eliteklasse auf anhaltende geschlechtsspezifische und ethnische Ungleichheiten bei einer Reform berücksichtigen.
Dabei spiele auch das Thomas-Prinzip eine Rolle, wie Gabriele Kaczmarczyk, Vorständin im Deutschen Ärztinnenbund, auf Anfrage des Deutschen Ärzteblatts (DÄ) erläutert. Demnach fördern Menschen eher diejenigen, die ihnen ähneln: Männer fördern also eher andere Männer.
Auch in Deutschland erhalten weniger Frauen Forschungsgelder als Männer. So berichtet eine Sprecherin des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) dem DÄ, dass Frauen in der medizinischen Forschung insbesondere in führender Position unterrepräsentiert seien. „Das spiegelt sich sehr häufig auch in der Zahl der Antragsstellerinnen bei den Fördermaßnahmen des BMBF wider."
Auch das Chancengleichheitsmonitoring der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zeigt, dass Frauen seltener Forschungsgelder erhalten. Im Jahr 2020 war der medizinischen Forschung im DFG-Chancengleichheitsmonitoring ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier sind die Förderungen der DFG nach Geschlecht und Alter aufgeschlüsselt.
Demzufolge hatten Wissenschaftlerinnen in der Medizin in den Altersgruppen bis 45 Jahre tatsächlich etwa gleich hohe Förderchancen wie Wissenschaftler. Der Anteil von Wissenschaftlerinnen sinkt in der Medizin über die Karrierestufen und über die Altersgruppen jedoch – und zwar stärker als in anderen Wissenschaftsbereichen", kommentiert eine Sprecherin der DFG.
Im Rahmen verschiedener Initiativen versucht die DFG laut eigener Aussage für mehr Diversität in der Wissenschaftsförderung zu sorgen: Dazu gehört beispielsweise aktuell die Bearbeitung eines Gleichstellungs- und Diversitätskonzepts.
Einen genauen Vergleich lässt das DFG-Chancengleichheitsmonitoring also nicht zu, da es nicht nur um die Forschenden im Spitzenbereich mit mindestens drei laufenden Förderungen geht. Zusätzlich finden sich hier auch keine Angaben zur Hautfarbe eines Antragsstellers oder einer Antragstellerin.
„Die Gründe, warum augenscheinlich weniger Frauen eine Förderung beantragen sind multifaktoriell und reichen von fehlender institutioneller Förderung, fehlendem Mentoring/Netzwerk und Auslastung in der klinischen Patientenversorgung bis hin zu strukturellen Hürden, zum Beispiel bei Betreuungsangeboten für Kinder", sagt die Radiologin Sarah Keller von der Charité Universitätsmedizin Berlin.
Die Reihenfolge der Autorenschaft entscheidet über die Karriere
Aber nicht nur die finanzielle Unterstützung durch staatliche Gelder ist ein Anhaltspunkt für die männliche Dominanz in der Wissenschaft. Auch beim Publizieren spiegeln sich patriarchale Strukturen wider. Die Physikerin und Philosophin Friederike Otto hält Veröffentlichungen für die wichtigste Währung in der Wissenschaft – besonders zum Beginn der Karriere. Entscheidend sei aber, dass der eigene Name an der richtigen Stelle genannt werden würde, schreibt die Seniorlektorin vom Grantham Institute des Imperial College London im Buch „Unlearn Patriarchy“.
In den meisten Fachbereichen (so auch in der Medizin) sei es so, dass erstgenannte Autorinnen und Autoren, die meiste Arbeit geleistet und auch federführend das Paper geschrieben hätten. Die Seniorautorenschaft gehe meist mit der Projektleitung und Finanzierung einher, sie zeigt sich an letzter Stelle der gelisteten Namen, erklärt Otto.
Gendergap vor allem bei der Seniorautorenschaft sichtbar
Die Veröffentlichungen des Erst- und manchmal auch des Letztautors ist für die Einstellung, Beförderung und den Erhalt einer Professur ebenso wichtig, wie die Anzahl der Veröffentlichungen, insbesondere in wissenschaftlichen Bereichen (EMBO Reports, 2007; DOI: 10.1038/sj.embor.7401095).
Studien zur Autorenschaft in der medizinischen Literatur zeigen beispielsweise, dass Frauen in den prestigeträchtigen Positionen des Erst- und des Letztautors seit jeher unterrepräsentiert sind. Diese Diskrepanzen haben Bestand, obwohl sie in letzter Zeit abgenommen haben (NEJM, 2006; DOI: 10.1056/NEJMsa053910; Journal of the American Academy of Dermatology, 2009; DOI: 10.1016/j.jaad.2008.06.044, Journal of the Royal Society of Medicine, 2009; DOI: 10.1258/jrsm.2009.080378; American Journal of Health-System Pharmacy, 2011; DOI: 10.2146/ajhp100597).
„Frauen sind zu bescheiden, wenn es um Erstautorenschaften geht", sagt Kaczmarczyk. Teils freiwillig, teils unfreiwillig steckten Frauen zurück und ließen sich vertrösten. „In meiner eigenen Arbeitsgruppe (Experimentelle Anästhesie der Charité) habe ich vor Beginn einer Studie, egal um was es ging, mit den Akteurinnen und Akteuren geklärt, wer was erarbeitet und wie die Reihenfolge der Autorenschaft auf dem zu schreibenden Paper ist", berichtet die ehemalige Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité. So könnten Kämpfe um die Erstautorenschaft vermieden werden. Kaczmarczyk zufolge könnten solche Kämpfe einen katastrophalen Verlauf nehmen können: So sei es beispielsweise vorgekommen, dass ein Doktorvater ohne das Wissen seiner Doktorandin ihre Daten veröffentlicht habe.
In der Erstautorenschaft medizinischer Fachartikel erhöht sich die Zahl der Frauen allerdings nach und nach. Eine im Februar veröffentlichte Studie zeigt beispielsweise, dass sich die Erstautorenschaft von Ärztinnen in thoraxchirurgischen US-Journals in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat – allerdings weiterhin auf niedrigem Niveau: von 8,5 Prozent auf 16 Prozent (The Journal of Thoracic and Cardiovascular Surgery, 2023; DOI: 10.1016/j.jtcvs.2022.12.024). Die Letztutorenschaft ist dagegen auf dem gleichen Niveau geblieben. 2020 war der Frauenanteil mit 7,8 Prozent sogar geringer als noch 2011 mit 8,9 Prozent.
Einen Rückgang weiblicher Letztautorenschaft zeigt auch eine Publikation, in der das Forschungsteam zwei urologische Journals analysiert hat (ANZ Journal of Surgery, 2022; DOI: 10.1111/ans.18143). Während im Jahr 2004 noch sieben Prozent der Letztautorenschaften von Frauen besetzt waren, waren es im Jahr 2019 nur noch 2,5 Prozent. „Die steigende Zahl von Urologinnen weltweit spiegelt sich nicht in der wissenschaftlichen Autorenschaft wieder“, resümiert das Forschungsteam.
Ein anderes kürzlich veröffentlichtes Paper von Forschenden um Keller mit mehr als 30.000 analysierten Originalarbeiten aus fünf verschiedenen Ländern kommt allerdings zu dem Schluss, dass gerade in den Fachbereichen Chirurgie und Urologie, in denen verhältnismäßig wenig Frauen arbeiten, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in der Autorenschaft ausgeglichen ist. Eine große Diskrepanz zeigte sich hingegen in den Fächern Gynäkolgie, Pädiatrie und Radiologie und der Letztautorenschaft (BMC Medical Education, 2023; DOI: 10.1186/s12909-023-04041-6). Das DÄ hat berichtet.
Corona hat Frauen in der Wissenschaft zurückgeworfen
Auch die Coronapandemie könnte einen Einfluss auf die Geschlechterungleichheit in der Wissenschaft gehabt haben. Das geht beispielsweise aus einer Auswertung des Elsevier-Verlags hervor (2021; DOI: 10.1371/journal.pone.0257919). Zwar hatten den Verlag während der ersten Pandemiewelle 30 Prozent mehr Manuskripte als noch 2019 zum gleichen Zeitpunkt erreicht, Frauen trugen jedoch nicht zu dieser Erhöhung bei.
Dieser Gender Publication Gap vor allem zu Beginn der Pandemie bestätigte sich in weiteren Veröffentlichungen (Pediatric Radiology, 2022 DOI: 10.1007/s00247-021-05213-6). Längsschnittanalysen deuten allerdings darauf hin, dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede in vielen Bereichen über die Zeit wieder auf die vorherigen Werte zurückgebildet haben (BMJ Open, 2021; DOI: 10.1136/bmjopen-2020-045176).
„Was uns die COVID-19-Pandemie eindrücklich vor Augen geführt hat, ist die Fragilität struktureller Ressourcen zur Förderung und Unterstützung von Familien", sagt Keller. Internationale Studien haben der Radiologin zufolge bestätigt, dass der Wegfall institutioneller Betreuungs- und Ausbildungseinrichtungen zu großen Teilen von Frauen kompensiert wurde (Gender, Work & Organization, 2020; DOI: 10.1111/gwao.12529). „Dies könnte dazu beigetragen haben, dass aufgrund fehlender zeitlicher Ressourcen ein Gender Publikation Gap entstanden ist."
Ob eher männliche oder weibliche Forschende publizieren können, hängt auch mit der Chefredaktion eines Journals zusammen. Ein höherer Anteil von Frauen in der Chefredaktion könnte dazu führte, dass signifikant mehr Frauen ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen – sowohl als Erst- als auch als Letztautorin. Das zeigte sich in einer vergangenes Jahr publizierten Analyse von 40 infektionsmedizinischen Journals (The Lancet Infectious Diseases, 2022; DOI: 10.1016/S1473-3099(22)00367-X).
Bevorzugung aktiv entgegenwirken
Der Erstautorin Katharina Last und Letztautoren Cihan Papan zufolge gibt es verschiedene Möglichkeiten, einem solchen Bias entgegenzuwirken, wie sie dem DÄ mitteilen.
Das Autorenteam ist sich mit anderen Forschenden einig, dass die Begutachtungsprozesse doppelt verblindet ablaufen sollten. So sagt Keller von der Charité ebenfalls, dass eine Verblindung hinsichtlich Namen, Herkunft und Geschlecht der Autorinnen und Autoren, auch im Sinne eines intersektionalen Ansatzes, helfen könnte, Biases zu reduzieren.
Auch Kaczmarczyk vom Ärztinnenbund sieht eine Anonymität in der Autorenschaft beim Einreichen eines Papers als ideal an, gibt allerdings zu bedenken: „Das ist aber bei den heutigen hochspezialisierten Themen nicht möglich, weil jeder Reviewer gleich wüsste, woher die Studie kommt."
Weitere Möglichkeiten der Ungleichheit im Veröffentlichungsprozess entgegenzuwirken sind beispielsweise den Frauenanteil sowohl unter den Editoren des Journals, als auch beim Peer-Review-Prozess zu erhöhen, erklären Last und Papan. „Zudem sollte es Diversity- und Equity-Kommissionen der Fachzeitschriften geben, um Fortschritte zu monitoren und Veränderungen zu forcieren beziehungsweise zu steuern", fordern die beiden.
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