Serotoninmangel könnte an der Pathogenese von Long COVID beteiligt sein

Philadelphia – Eine anhaltende Infektion des Darms mit SARS-CoV-2 könnte über eine verminderte Synthese von Serotonin die neurokognitiven Symptome („brain fog“) erklären, an der viele Patienten im Anschluss an COVID-19 leiden und die als Long COVID oder PASC bezeichnet werden.
Auch eine anhaltende Hyperkoagulabilität ließe sich auf den Mangel des Neurotransmitters zurückführen. Dies zeigen die Untersuchungsergebnisse von US-Forschern in Cell (2023; DOI: 10.1016/j.cell.2023.09.013), die auch den Nervus vagus in die Pathogenese einbeziehen.
Etwa jeder fünfte Patient erholt sich nur schleppend von COVID-19, wobei bei vielen Betroffenen neurokognitive Symptome wie Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme, eine allgemeine Müdigkeit und eventuell auch Kopfschmerzen im Vordergrund stehen. Die Ursachen für diesen „Hirnnebel“, der auch nach anderen Virusinfektionen beschrieben wurde, liegen völlig im Dunkeln.
Einem Forscherteam um Maayan Levy von der Perelman School of Medicine in Philadelphia war in einer Analyse von fünf Metabolom-Studien aufgefallen, dass es während der akuten Erkrankungsphase von COVID-19 zu einem Abfall der Serotoninwerte im Blut kam, der bei Patienten mit Long COVID nach dem Abklingen der akuten Erkrankung anhielt.
Eine genauere Metabolom-Analyse von 58 Patienten mit PASC („post-acute sequelae of COVID-19“) bestätigte dies. Bei diesen Patienten blieben die Plasmaspiegel im Blut niedrig, während sie sich bei 30 Patienten, die sich vollkommen von COVID-19 erholt hatten, wieder normalisierten.
Ein ähnlicher Serotoninmangel wurde auch bei 33 Patienten gefunden, die sich mit anderen Viren infiziert hatten. Offenbar handelt es sich um eine allgemeine Reaktion auf Virusinfekte. Die Forscher beobachteten sie auch in einem Mäusemodell, bei dem die Tiere chronisch mit dem lymphozytären Choriomeningitisvirus infiziert wurden. Der Serotoninmangel trat bei den Tieren auch auf, wenn eine Virusinfektion durch die Injektion von doppelsträngiger RNA nur vorgetäuscht wurde.
Der Mangel wäre deshalb nicht die direkte Folge der Infektion. Levy bringt ihn mit einer Aktivierung des angeborenen Immunsystems in Verbindung, deren Zellen bei einer Virusinfektion Typ-1-Interferone freisetzen. Als Wirkungsort der Interferone kommt in erster Linie die Darmschleimhaut infrage. Dort wird Serotonin von enterochromaffinen Zellen aus der Aminosäure Tryptophan hergestellt.
Die weiteren Experimente an Mäusen und an intestinalen Organoiden (kleinen Zellhaufen, an denen sich die Funktion der Darmschleimhaut untersuchen lässt) ergaben, dass die Typ-1-Interferone die Resorption von Tryptophan durch die Enterozyten der Darmschleimhaut hemmen. Den enterochromaffinen Zellen fehlte dann der Rohstoff für die Produktion von Serotonin.
Serotonin wird im Blut von den Thrombozyten transportiert (freies Serotonin wird sofort von dem Enzym Monoaminoxidase, MAO, abgebaut). Eine Folge des Serotoninmangels ist eine Funktionsstörung der Thrombozyten. Sie führte in den Experimenten zu einer Steigerung der Thrombozytenaggregation und damit der Blutgerinnung. Dies passt zu den Berichten anderer Forscher, die bei PASC-Patienten Mikrothromben in den Blutgefäßen gefunden haben.
Unklar ist noch, wie sich der Serotoninmangel im Blut auf das Gehirn auswirkt. Mit den Thrombozyten gelangt Serotonin zwar auch in die Blutgefäße des Gehirns. Die Blut-Hirn-Schranke, die durch das Endothel gebildet wird, kann Serotonin jedoch nicht überwinden. Levy nimmt deshalb an, dass der Serotoninmangel im Darm die Signalübertragung über den Nervus vagus hemmt. Die fehlenden Impulse im Gehirn sollen dann für die Gedächtnisstörungen verantwortlich sein.
Eine mögliche Konsequenz wäre die Behandlung von PASC-Patienten mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), die als Antidepressiva zugelassen sind. Die Forscher haben dies bei Mäusen ausprobiert und einen gewissen Anstieg der Neugierde („novel object preference“) beobachtet, die sie als Verbesserung der kognitiven Leistungen interpretieren.
Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass die Behandlung auch bei Patienten mit Long COVID wirksam wäre. Klinische Studien wurden zu dieser Frage noch nicht durchgeführt (Das SSRI Fluvoxamin war zeitweilig als Mittel zur Akutbehandlung von COVID-19 im Gespräch, hat sich aber nicht bewährt).
Neben der Vagus-Schiene könnte der Tryptophanmangel noch in anderen Bereichen negative Auswirkungen haben. Die Aminosäure wird beispielsweise bei der Produktion von Niacin und Melatonin benötigt. Ob eine Behandlung mit Tryptophan die Symptome von PASC lindern würde, müsste ebenfalls in klinischen Studien überprüft werden.
Unbewiesen ist auch, ob es tatsächlich zu einer chronischen Infektion mit SARS-CoV-2 im Darm kommt oder die RNA der Viren aus anderen Gründen persistieren können. Die Forscher berichten zwar, dass sie die RNA von SARS-CoV-2 in den Stuhlproben von Patienten mit PASC nachgewiesen haben. Auch hier bleibt abzuwarten, ob andere Forscher dies bestätigen können.
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