Ärzteschaft

Sexueller Missbrauch: Kritik an zu langen Wartezeiten der Gelder für Betroffene

  • Mittwoch, 10. Juni 2020
/Daniel Beckemeier, stock.adobe.com
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Berlin – Betroffene sexueller Gewalt müssen nach Angaben der Deutschen Psychothera­peuten Vereinigung (DPtV) zu lange auf Geld aus dem „Fonds für sexuellen Missbrauch“ (FSM) warten. Nach Informationen von Mitgliedern gebe es erhebliche Verzögerungen bei der Bear­beitung von Anträgen auf Finanzierung einer ambulanten Psychotherapie, heißt es aus dem Berufsverband.

„Missbrauchsfälle wie aktuell in Münster lassen traumatisierte Menschen zurück, die psy­chotherapeutische Hilfe benötigen“, sagt Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der DPtV. „Es ist unzumutbar, dass sie Monate und Jahre auf Geld aus dem Hilfsfonds für ihre Therapien warten müssen.“

Der Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigt die Vorwürfe der DPtV. Johannes Wilhelm Rörig berichtet gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt, dass beim Hilfetelefon regelmäßig Beschwerden von Betroffenen, Therapeuten und Beratungs­stellen eingehen, die sich über die langen Bearbeitungszeiten, verzögerten Leistungs­zahlungen und schlechten Kontaktmöglichkeiten beschweren. Zuletzt habe er sich auch persönlich an Bundesbildungsministerin Franziska Giffey gewandt, mit dem Appell Abhilfe zu schaffen.

Am Wochenende war ein Fall des schweren sexuellen Missbrauchs mehrerer Kinder in Münster bekannt geworden. Der 27 Jahre alte Hauptverdächtige war wegen des Besitzes von Kinderpornografie zweifach vorbestraft.

Der Fonds für sexuellen Missbrauch will Betroffenen helfen, die in ihrer Kindheit oder Ju­gend sexuellen Missbrauch erlitten haben und noch heute unter dessen Folgewir­kungen leiden. Die Krankenkassen bezahlen Betroffenen eine Psychotherapie nur für eine be­stimmte Zeit, so dass zwischen den Therapien Lücken von mehreren Jahren entstehen können. Um diesen Missstand aufzufangen, legte die Bundesregierung 2013 den FSM auf.

Auf der Homepage des Fonds wird darauf hingewiesen, dass es angesichts der COVID-19-Pandemie dazu kommen könne, „dass Vorgänge mitunter unbearbeitet bleiben, weil not­wendige Unterlagen nicht digital vorliegen“. Bearbeitet würden derzeit (Stand 4. Juni) Erst­anträge mit Eingang ab Oktober 2019. Bei Änderungs- und Ergänzungsanträgen be­trage die durchschnittliche Bearbeitungsdauer 14 Monaten, heißt es auf der Homepage.

Psychotherapeuten warten Monate auf Begleichung von Rechnungen

„So lange können die Betroffenen nicht warten. Wegen fehlender Zusagen werden bei ihnen am Ende Psychotherapien beendet oder unterbrochen. Das ist unzumutbar“, kriti­siert Hentschel.

Oft führten Psychotherapeuten die hochspezialisierten Therapien trotz­dem fort und müss­ten Monate auf die Begleichung ihrer offenen Rechnungen warten. DPtV-Mitglieder berichteten, dass es auf Beschwerdeschreiben an den Fonds meist keine Antworten gege­ben habe. Anrufe bei der Hotline hätten eine Überforderung der Mitarbeiter offenbart.

„Die Betroffenen von Missbrauch haben oft keine Kraft, sich mit Verwaltungen ausein­an­derzusetzen. Sie haben Anspruch, dass die Gesellschaft ihnen schnell und unbüro­kratisch hilft“, fordert Psychotherapeut Hentschel.

Bei dem Hauptverdächtigen im Münsteraner Missbrauchsfall, einem IT-Techniker, fanden Ermittler hochprofessionelle technische Ausstattung zur Videoaufzeichnung und stellten Hunderte Terabyte versiert verschlüsselten kinderpornografischen Materials sicher.

Die EU-Kommission kündigte deshalb aktuell an, den europaweiten Kampf gegen sexue­llen Kindesmissbrauch stärken zu wollen. „Für eine Kooperation bei der Strafver­folgung über Grenzen hinweg braucht die Polizei mehr Training und Technologie. Große Internet­firmen müssen in die Pflicht genommen werden“, fordert Innenkommissarin Ylva Johans­son.

Weltweit haben nach Angaben der EU-Kommission die gemeldeten Fälle von einer Milli­on auf 17 Millionen zugenommen. Während der Coronakrise sei die Zahl der Fälle erneut deutlich nach oben gegangen. „Fast 90 Prozent der Internetseiten werden in Europa ge­hostet – vor allem in den Niederlanden, sagte Johansson.

In Deutschland haben die Fälle der „Herstellung, Besitz und Verbreitung von Kinder­por­no­grafie“ im vergangenen Jahr um 65 Prozent zugenommen: 2019 wurden 12.262 Fälle von der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst; 2018 waren es 7.449.

„Hinter jedem in Internet eingestellt Material steht der reale Missbrauch eines Kindes“, sagte der Präsident des Bundeskriminalamtes Holger Münch bei der Vorstellung der PKS am 11. Mai in Berlin. Im Internet werde der Missbrauch zudem grenzenlos und dauerhaft fortgesetzt.

PB/dpa

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