Streit über EU-Finanzhilfen an Palästinenser

Brüssel – In der Europäischen Union (EU) gibt es Streit über die richtige Reaktion auf den Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel.
EU-Ratspräsident Charles Michel kritisierte gestern Abend mit deutlichen Worten die deutsche Entscheidung, die Finanzhilfen für die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten vorübergehend auszusetzen. Der Belgier warnte, ein Stopp von dringend benötigter Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für palästinensische Zivilisten könnte von der Hamas ausgenutzt werden und Spannungen und Hass verschärfen.
Schwere Spannungen gab es deswegen auch innerhalb der EU-Kommission. Die Behörde musste deswegen am Abend sogar Ankündigungen zum Einfrieren von Entwicklungshilfezahlungen relativieren. Demnach werden nicht wie zuvor von dem zuständige EU-Kommissar Oliver Varhelyi angekündigt, alle Zahlungen sofort ausgesetzt.
Am Abend hieß es aus Kommissionskreisen, es sei tatsächlich vereinbart worden, bis zum Abschluss einer Überprüfung der Hilfen keine Gelder auszuzahlen. Es sei aber auch richtig, dass derzeit keine Zahlungen anstünden.
Zusätzlich zu den bestehenden Absicherungsmechanismen soll damit sichergestellt werden, dass keinerlei EU-Finanzierung es einer terroristischen Organisation indirekt ermöglicht, Anschläge auf Israel zu verüben.
Die im Rahmen des Europäischen Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe (ECHO) geleistete humanitäre Hilfe sei von dieser Überprüfung nicht betroffen, informierte die EU-Kommission heute. Diese werde zudem prüfen, ob ihre Hilfsprogramme für die palästinensische Bevölkerung und die Palästinensische Behörde angesichts der veränderten Sachlage vor Ort angepasst werden müssen.
Relevant sind die Diskussionen, weil die EU und ihre Mitgliedstaaten nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem Beitrag von etwa 600 Millionen Euro pro Jahr der größte Geldgeber der Palästinenser sind. Allein aus dem EU-Haushalt waren für den Zeitraum 2021 bis 2024 Finanzhilfen von 1,18 Milliarden Euro vorgesehen.
Unterstützung für Gesundheit und Sozialhilfe
Mit der EU-Hilfe für die Palästinenser werden nach Kommissionsangaben vom gestrigen Montag bislang vor allem die Finanzierung wichtiger Unterstützungsleistungen für die palästinensische Bevölkerung sowie die der Autonomiebehörde gefördert.
Als konkrete Beispiele nennt die Behörde den Gesundheitssektor, Sozialhilfeleistungen für arme Familien sowie Entwicklungsprojekte in Bereichen wie demokratische Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Energie und wirtschaftliche Entwicklung. Zudem wird auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten unterstützt.
Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hatte gestern angekündigt, die Finanzhilfen für die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten „vorübergehend“ auszusetzen. Die Programme würden nun umfassend und mit offenem Ausgang überprüft, sagte eine Ministeriumssprecherin in Berlin.
Das BMZ hatte nach eigenen Angaben ursprünglich für dieses und nächstes Jahr rund 125 Millionen Euro an bilateraler Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich zugesagt. Dabei geht es um längerfristige Programme. Eine Sprecherin nannte Wasserversorgung und -entsorgung, eine Entsalzungsanlage, berufliche Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Leute und Ernährungssicherung als Beispiele.
Humanitäre Hilfe weiter benötigt
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) setzt sich ebenfalls für die Überprüfung der Hilfen an die Palästinenser ein. Es müsse sichergestellt werden, dass nicht „irgendeine Struktur unterstützt wird, die etwas mit dem Terrorismus zu tun hat“, sagte Scholz heute in Hamburg bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
„Wir sind sicher, das ist nicht der Fall“, fuhr der Kanzler fort. Es sei aber „ein Gebot der Notwendigkeit“, dass dies nun nochmals neu überprüft werde. Scholz verwies darauf, dass es in vielen Fällen um humanitäre Hilfe gehe. Diese unterstütze Menschen, „damit sie Wasser haben und etwas zu essen haben“. Diese seien „oft auch weit weg vom Ort des Geschehens“, sagte er.
Die Bundesregierung bemühe sich außerdem „intensiv“ um Erkenntnisse über das Schicksal der mutmaßlich von der radikalislamischen Hamas in Israel entführten Deutschen. Deutschland arbeite dabei mit Israel zusammen, sagte Scholz. „Wir versuchen genau zu ermitteln, um wie viele Personen es sich handelt und was wir dafür tun können, dass sie wieder in Freiheit kommen“, sagte Scholz.
Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), will die humanitäre Unterstützung in den palästinensischen Gebieten aufrechterhalten. „Es geht sicherlich nicht um die Infragestellung von humanitärer Hilfe im engsten Sinne, also dass Menschen mit Medikamenten versorgt werden, dass sie sauberes Wasser erhalten, dass sie ein Dach über den Kopf bekommen. Aber alles andere kann ich mir in diesen Zeiten schwerlich vorstellen“, sagte der Außenpolitiker heute im Deutschlandfunk.
Roth wies darauf hin, dass Debatten über die Verwendung von Entwicklungshilfemitteln nicht neu seien. „Ich weiß, dass es auch im Auswärtigen Amt immer wieder auch eine Überprüfung der Mittel gegeben hat“, sagte er. Roth unterstrich zudem erneut die Solidarität Deutschlands mit Israel. „Wir müssen ganz klar an der Seite Israels stehen und alles, was auch nur im Verdacht steht, in irgendeiner Weise Terrororganisation behilflich zu sein, muss gestoppt werden.“
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte bereits gestern in der der n-tv-Talkshow „Beisenherz“ die Notwendigkeit betont, humanitäre Hilfe in den palästinensischen Gebieten fortzusetzen. Sie unterstrich, dass Deutschland keine Terrorgruppen finanziere und die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und NGO sicherstelle, um direkte Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde zu vermeiden.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat heute zudem einen humanitären Korridor zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen gefordert. Es müsse möglich sein, die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, sagte ein WHO-Sprecher in Genf.
Die WHO habe vor der jüngsten Eskalation Materiallager im Gazastreifen unterhalten, aber alles sei inzwischen aufgebraucht. Die Krankenhäuser könnten die hohe Zahl der Verwundeten ohne weitere Unterstützung nicht bewältigen.
Ärztinnen und Ärzte können sich für Freiwilligenarbeit bereiterklären
Um medizinische Unterstützung bittet auch das israelische Gesundheitsministerium. Dieses erstellt derzeit eine Liste mit Ärztinnen, Ärzten, Pflegekräften und anderem medizinischen Personal aus dem Ausland, die sich bereit erklären, einen freiwilligen Einsatz in Israel zu leisten, sollte das Land künftig weitere Unterstützung benötigen.
Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW verurteilte die massiven Angriffe der Hamas auf Israel sowie die Entführungen heute scharf. Die Ärzteorganisation fordert den UNO-Generalsekretär auf, sich für einen sofortigen Waffenstillstand im Krieg zwischen der Hamas und Israel, die Freilassung der Geiseln und die Schonung von Zivilistinnen und Zivilisten einzusetzen.
Hunderte von Terroristen waren am vergangenen Samstag im Auftrag der im Gazastreifen herrschenden Hamas in einem Überraschungsangriff über die Grenze nach Israel gekommen. Bei den darauf folgenden Angriffen sowie einem Massaker unter Teilnehmern eines Musikfestivals wurden rund 900 Menschen getötet, Männer, Frauen und Kinder. Mehr als 2.600 Menschen wurden nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums verletzt.
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