Ausland

Sturm der Entrüstung: Scharfe Kritik an Johnsons Coronaöffnungskurs

  • Dienstag, 6. Juli 2021
Boris Johnson /picture alliance, PA Wire, Daniel Leal-Olivas
Boris Johnson /picture alliance, PA Wire, Daniel Leal-Olivas

London – Das angekündigte Ende aller Coronavorschriften in England hat einen Sturm der Entrüstung gegen den britischen Premierminister Boris Johnson ausgelöst. Ärzte, Gewerkschaften, Bürgermeister und Opposition kritisierten vor allem die Entscheidung, die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aufzuheben.

Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen „mit Vollgas“ durchsetze, sagte der Chef der Ärz­te­vereinigung BMA, Chaand Nagpaul. „Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten.“

Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut. Am Vortag hatte Premierminister Boris Johnson bestä­tigt, dass die verbliebenen Coronamaßnahmen in England am 19. Juli aufgehoben werden sollen. Dazu zählen Abstandsregeln und Maskenpflicht. Nachtclubs und Discos dürfen wieder öffnen, für Veranstaltun­gen gibt es keine Zuschauerbegrenzungen mehr. Eine verbindliche Entscheidung soll am kommenden Montag (12. Juli) fallen.

Das Land befinde sich in unbekanntem Territorium, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar bei Sky News. Es handle sich um ein „massives Experiment“. Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour­partei nannte Johnsons Pläne „rücksichtslos“.

Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine Yougov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind. Londons Bürgermeister Sadiq Khan kündigte an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. „Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich“, twitterte Khan.

Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid verteidigte hingegen die Pläne. Im Radiosender BBC 4 räumte er zwar ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erhöhen werde. „Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen“, sagte der Minister.

In Großbritannien ist die Zahl der Coronainfektionen zuletzt wieder in die Höhe gegangen: Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen einer Woche, wurde zuletzt mit 229,9 angegeben (Stand: 30. Juni). Grund ist die rasche Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Varian­te.

Javid betonte aber, der Einsatz von Impfstoffen habe die Verbindung von Infektionen und Krankenhaus­einweisungen sowie Todesfällen geschwächt. „Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall“, sagte Javid bei Sky News. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“

Der Minister sagte, es sei an der Zeit, sich verstärkt um an­de­re Gesundheitsprobleme zu kümmern. Millio­nen Menschen hätten sich während der Pandemie mit ihren Sorgen nicht an den Nationalen Gesund­heits­dienst (NHS) gewandt. Dies müsse ebenfalls eine Prio­rität sein. „Es kann nicht nur immer um Corona gehen“, sagte Javid.

Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündi­gung als Meilenstein. Der Kneipenverband British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2.000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschloss­en haben.

Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne eben­falls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.

Offen ist noch, wie sich die Pläne auf Schulen und Reisen auswirken. Erwartet wird, dass ebenfalls vom 19. Juli an nur noch Schüler in Selbstisolation müssen, die positiv getestet werden. Ihre Klassenkamera­den können dennoch in die Schulen gehen – bisher müssen sie ebenfalls in häusliche Quarantäne.

Geplant ist zudem, dass vollständig Geimpfte nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Deutschland, die auf einer „gelben Liste“ stehen, nach Ankunft nicht mehr in Selbstisolation müssen.

dpa

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung