Vertragsärzte: Bei Lockerung regionale Aspekte berücksichtigen

Berlin – Bei der Beurteilung, ob Lockerungen von Coronaauflagen angesichts steigender Infektionszahlen wieder zurückgenommen werden müssen, plädiert die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) dafür, lokale und regionale Faktoren stärker zu berücksichtigen.
„Wir müssen uns von starren Zahlen lösen“, sagte der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen heute bei einer Onlinepressekonferenz in Berlin. Er bezog sich dabei auf den Wert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche, den Bund und Länder am 6. Mai als Indikator dafür festgelegt hatten, beschlossene Lockerungen wieder zurückzunehmen.
Dieser Wert berücksichtige nicht die regionalen Gegebenheiten, kritisierte Gassen. In die Bewertung müsse zum Beispiel auch einfließen, ob es vor Ort ausreichend Intensivkapazitäten gebe oder ob ein neuer Coronaausbruch auf bestimmte Einrichtungen wie Schlachthöfe begrenzt sei.
Der KBV-Vorsitzende erwähnte in diesem Zusammenhang das vom Berliner Senat beschlossene Ampelsystem. Das Warnsystem, das Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) gestern vorgestellt hatte, berücksichtigt neben der Zahl der Neuinfektionen auch die Reproduktionsrate und die Belegung der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten.
Für die drei Kriterien gelten jeweils Grenzwerte. So könne man sowohl die Übertragungsdynamik als auch die Belastung des Gesundheitssystems im Blick behalten, hatte der Senat mitgeteilt.
Zeit des Lockdowns ist vorbei
Aktuell sind der KBV zufolge gut 173.000 Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus diagnostiziert worden. Von den Infizierten seien 147.000 genesen und 7.700 gestorben. Noch erkrankt seien 18.233 Menschen, berichtete Gassen. Man verzeichne zurzeit einen stabilen Rückgang der Neuinfektionen.
Deshalb sei es Zeit, Einschränkungen der Freiheitsrechte zurückzunehmen und in der medizinischen Versorgung den Regelbetrieb wiederaufzunehmen. Auch Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen insbesondere bei Kindern müssten wieder wahrgenommen und die Wartelisten für elektive Operationen abgearbeitet werden. „Die Zeit des Lockdowns ist vorbei“, sagte Gassen.
Dennoch dürfe man COVID-19 nicht verharmlosen. Insbesondere Risikogruppen wie ältere und multimorbide Menschen müssten weiterhin angemessen geschützt werden. „Denn das Virus bleibt“, so der KBV-Chef. Deshalb sei es wichtig, dass auch weiterhin Abstands- und Hygieneregeln befolgt würden.
Gassens Vorstandskollege Stephan Hofmeister betonte erneut die Schlüsselrolle der niedergelassenen Ärzte im Kampf gegen die Coronapandemie. Nach wie vor würden sechs von sieben Coronapatienten in den Praxen niedergelassener Ärzte versorgt. „Der Schutzwall für die Krankenhäuser hat gehalten“, sagte Hofmeister. Für mehr als 55 Prozent der Menschen sei der Hausarzt bei Coronaverdacht der erste Ansprechpartner. Das habe eine Umfrage im Auftrag der KBV Anfang Mai ergeben.
Patienten zufrieden mit der Arbeit der Ärzte
Dabei hätten sich die Befragten überwiegend zufrieden mit der Arbeit der niedergelassenen Ärzte in der Coronakrise gezeigt (50,2 Prozent). Allerdings hätten 35 Prozent der Befragten erklärt, sie könnten dies nicht beurteilen. Diese Bürger seien vermutlich gar nicht beim Arzt gewesen seien, sagte der KBV-Vize.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie mit steigenden Arbeitslosenzahlen und Unternehmensinsolvenzen werden sich nach Ansicht der KBV in höheren Beiträgen der Krankenkassen niederschlagen.
Wichtig sei hier, dass die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen den Krankenkassen nicht auch noch aufgebürdet werde, erklärte der KBV-Vorsitzende Gassen. Darunter falle beispielsweise die nicht anlassbezogene Testung auf das SARS-CoV-2-Virus im Rahmen der Pandemiebekämpfung.
Auf die Honorare der Vertragsärzte und -psychotherapeuten wird sich die angespannte Finanzlage der Kassen aber Gassen zufolge nicht auswirken. Die Kriterien für die Honorarverhandlungen seien gesetzlich festgelegt. „Aber es dürfte deutlich schwieriger werden, über die Aufnahme neuer Leistungen in den EBM zu verhandeln“, vermutete er.
Die Coronapandemie habe aber auch gezeigt, dass man mit Spardiktaten im Gesundheitswesen vorsichtig sein sollte, sagte Gassen. Dass das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich gut ausgestattet sei, habe hierzulande Schlimmeres verhütet.
Frühzeitige Tests ohne Kosten für die Versicherten, mehr als 500 Fieberpraxen und eine strikte Trennung von „normalen“ Patienten und Coronaverdachtsfällen hätten zum derzeitigen Erfolg bei der Eindämmung der Pandemie beitragen. Inzwischen sei man dabei, auch das Problem mangelnder Schutzausrüstung in den Griff zu bekommen. Ob es eine zweite oder gar dritte Infektionswelle geben werde, sei ungewiss, sagte Gassen. Das KV-System sei aber gut aufgestellt.
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