Politik

Verzerrte Erinnerungen an die Coronapandemie könnten Vorbereitung auf künftige Krisen gefährden

  • Donnerstag, 2. November 2023
/Photocreo Bednarek, stock.adobe.com
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Berlin – Die Erinnerungen an die Coronapandemie sind häufig verzerrt – je nachdem ob die Betreffenden Impfbefürworter oder -gegner sind. Diese Verzerrung aufgrund der gesellschaftlichen Polarisierung könnte die Vorbereitung auf künftige Krisen erschweren.

Das berichtet eine internationale Arbeitsgruppe aus Deutsch­land, Österreich und den USA im Fachmagazin Nature (2023, DOI: 10.1038/s41586-023-06674-5). Der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann fordert wegen der Ergebnisse der Studie eine Enquete-Kommission, um die Coronamaßnahmen aufzuarbeiten.

Die Forscher befragten mehr als 10.000 Studienteilnehmer aus zehn Ländern. Die erste Befragungsrunde fand bereits im ersten Jahr der Pandemie statt, also im Jahr 2020. Die zweite Befragung erfolgte um den Jahres­wechsel 2022/2023.

„In der zweiten Befragung wurden sie auch gebeten, sich an ihre Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im ersten Jahr der Pandemie zu erinnern. So konnten ihre Erinnerungen mit den tatsächlich gegebenen Antwor­ten verglichen werden“, erklärte einer der Erstautoren, Philipp Sprengholz von der Universität Bamberg.

Insbesondere interessierte die Wissenschafter, wie unterschiedliche Einstellungen die Verzerrung der Erinne­rungen beeinflussen. Dafür betrachteten sie vor allem, ob die Befragten gegen Corona geimpft oder unge­impft waren.

Es zeigte sich: Je nachdem, wie sehr sich Geimpfte beziehungsweise Ungeimpfte mit ihrem Impfstatus identi­fizieren, sind die Erinnerungen in unterschiedliche Richtungen verzerrt. So überschätzen beispielsweise Ge­impfte ihr damals wahrgenommenes Risiko einer Infektion und ihr Vertrauen in die Wissenschaft, während beides von Ungeimpften im Rückblick tendenziell unterschätzt wird.

Weiterhin zeigte sich, dass Studienteilnehmer, die das Risiko im nachhinein eher unterschätzen, politische Maßnahmen rückblickend als weniger angemessen wahrnehmen.

Negativere Bewertungen der politischen Maßnahmen während der Pandemie sind der Studie zufolge auch mit einem stärkeren Wunsch verbunden, Politiker und Wissenschaftler für ihr Handeln in der Pandemie zu bestrafen – bis hin zu dem Wunsch, die gesamte politische Ordnung zu zerschlagen.

Wenig überraschend gaben diese Befragten auch an, dass sie nicht beabsichtigen, Bestimmungen in zukünfti­gen Pandemien zu folgen.

„Die Ergebnisse zeigen, dass es systematische Unterschiede darin gibt, wie sich Menschen an die Pandemie erinnern, obwohl sich ihre damaligen Einschätzungen oftmals gar nicht so stark voneinander unterschieden“, fasst der zweite Hauptautor Luca Henkel von der University of Chicago die Ergebnisse zusammen.

Die verzerrte Erinnerung führe zu einer polarisierten Wahrnehmung der Vergangenheit, die das Potenzial habe, die aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Polarisierung aufrechtzuerhalten und die Vorbereitung auf kommende Krisen zu behindern, so seine Befürchtung.

„In Zukunft müssen wir über die kurzfristigen Effekte politischer Maßnahmen zur Eindämmung von Pande­mien hinausblicken und auch langfristige Folgen für den sozialen Zusammenhalt berücksichtigen“, ergänzte Cornelia Betsch von der Universität Erfurt und vom Bernhard Nocht Institut für Tropenmedizin Hamburg.

„Die Studie zur verzerrten Erinnerung an die Coronapandemie ist ein Mahnruf an die Politik“, sagte Gesund­heitspolitiker Andrew Ullmann. Es brauche eine wissenschaftlich-politische Aufbereitung der Maßnahmen und des politischen Handelns.

Diese Aufarbeitung ist laut Ullmann sehr wichtig: „Wenn wir nicht handeln, werden wir die Gräben in der Bevölkerung erweitern – bis sie womöglich nicht mehr zu überwinden sind“, sagte er.

hil

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