Corona-Paper: Einblicke in Protokolle zu Krisenberatungen

Berlin – Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie waren teils heftig umstritten. Nun wurden Protokolle zu Beratungen im Krisenstab des Robert-Koch-Instituts (RKI) publik. Der Onlineblog Multipolar hatte die Freigabe der Dokumente nach eigenen Angaben gerichtlich erstritten.
Das Portal, das von Kritikern in die Nähe verschwörungserzählerischer Publikationen gerückt wird, hat die Dokumente frei zugänglich gemacht. Ins Netz gestellt wurden 456 PDF-Dateien mit mehr als 2.500 Seiten, die den Zeitraum 14. Januar 2020 bis 30. April 2021 umfassen. Die Tagesordnungen und Protokolle sind teils geschwärzt. Ein zusätzliches Dokument, das die geschwärzten Passagen erläutert, umfasst weitere rund 1.000 Seiten.
Die Protokolle umfassen die gesamte Bandbreite der Themen in der Pandemie. Es geht um Impfstoffe, Abstandsregelungen, Lockdowns, Schulschließungen, Maskenpflicht und weitere Themen und Einschätzungen zur damaligen Coronalage.
Im Protokoll vom 17. März 2020 steht zum Beispiel: „Die Bürger sollen mehr angesprochen werden. Der Ausbruch ist nicht nur der Ausbruch vom RKI, ÖGD oder BMG, sondern auch der Bevölkerung. Die Botschaften zur Selbstverantwortung sind noch nicht ganz angekommen.“
Diskutiert wurde in den Papieren etwa, ob flächendeckende Schulschließungen sinnvoll seien. Dazu heißt es zum Beispiel in den Protokollen vom 9. Dezember 2020, es sei die Frage aufgekommen, warum die Zahlen weiterhin so hoch seien. „Ausmaß der Kontaktbeschränkungen reicht nicht aus, ggf. müssten konsequenter Geschäfte, Schulen geschlossen werden, Anmerkung dazu: Schulen sind nicht das Mittel um die Pandemie einzudämmen, das zeigen auch andere Länder“, ist dem Protokoll zu entnehmen.
Das RKI betonte heute, die Krisenstabprotokolle seien Zusammenfassungen von Diskussionen, die innerhalb des COVID-19-Krisenstabs des RKI stattgefunden hätten. „Diese Diskussionen spiegeln den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider, in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen werden. Einzelne Äußerungen im Rahmen solcher Diskussionen spiegeln jedoch nicht zwangsläufig die dann abgestimmte Position des RKI wider.“
Protokolle im Kontext betrachten
Die Protokolle gäben die Diskussionen und Entscheidungen im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt und Kenntnisstand wieder. Kontext und Datengrundlagen sind nach RKI-Angaben nicht immer erwähnt worden, da diese in anderen Unterlagen zur Verfügung gestanden hätten. Deshalb müssten die Protokolle „immer in ihrem Kontext gesehen und interpretiert werden“.
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) trat heute Vermutungen über eine externe Einflussnahme auf eine höhere Risikobewertung des RKI zur Coronalage im März 2020 entgegen. Das Ministerium reagiert damit auf angestellte Interpretationen von Textpassagen aus den Protokollen. So heißt es zum Beispiel in einem Papier vom 16. März 2020: „Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Passage geschwärzt) ein Signal dafür gibt.“
Das lässt Spekulationen Raum. Die Ministeriumssprecherin und das RKI machten heute deutlich, hinter der Schwärzung stehe „ein interner Mitarbeiter des RKI“. Verschiedene Medien hatten gemutmaßt, dass die Hochstufung der Risikoeinschätzung nicht unabhängig erfolgt sei. Das sei falsch, so das RKI. Schwärzungen von Namen in solchen Zusammenhängen seien üblich, da man auch Mitarbeiter schützen müsse.
Das RKI habe am Tag darauf die neue Risikobewertung in einer Pressekonferenz auch öffentlich gemacht, erklärte eine Sprecherin des Ministeriums. „Das RKI ist in seinen fachlichen Bewertungen von Krankheiten absolut unabhängig“, sagte diese.
Lauterbach betont Unabhängigkeit des RKI
Das unterstrich auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Das RKI hat unabhängig von politischer Weisung gearbeitet“, sagte er. Der sogenannte geschwärzte Mitarbeiter sei ein Mitarbeiter des RKI gewesen. Es habe keine politische Weisung gegeben, auf die das RKI reagiert hätte.
Das RKI habe eine fachliche Bewertung der Lage vorgenommen, die im damaligen Zusammenhang zu sehen sei, erläuterten das Ministerium und das RKI. So habe die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fünf Tage zuvor, am 11. März 2020, die Pandemie ausgerufen. Im italienischen Bergamo seien im Februar/März 4.500 Menschen an COVID-19 gestorben, mehrere Länder hätten auch kurz zuvor Einreiseverbote verhängt.
Im Krisenstab diskutiert wurde immer wieder auch der Mund-Nasen-Schutz oder der Nutzen von FFP2-Masken. In dem Protokoll vom 30. Oktober 2020 wird zum Beispiel darauf verwiesen, dass FFP2-Masken „bei nicht korrekter Anpassung und Benutzung keinen Mehrwert“ haben.
Es wird zudem erläutert, dass die Nutzung von FFP2-Masken auf keinen Fall dazu führen dürfe, dass andere Maßnahmen (Abstand, Lüftung) vernachlässigt oder außer Kraft gesetzt würden. Es gibt ebenfalls den Hinweis, dass „ein mögliches Knappwerden der Masken für die eigentlich intendierten Benutzer (medizinischer Bereich) absolut zu vermeiden“ sei.
Minister Lauterbach betonte heute, die in den Dokumenten geäußerte erste Einschätzung zur Wirksamkeit des Tragens von Masken sei später revidiert worden. „Die Maßnahmen, die später ergriffen worden sind, waren gut abgesichert. Dazu zählt auch das Tragen von FFP2-Masken“, so der Minister.
Er sagte, es sei von Anfang an klar gewesen, dass sie nicht so gut wirkten, wenn diese falsch aufgesetzt würden. Nachdem die Handhabung in der Bevölkerung klar gewesen sei, hätten diese aber „sehr viel“ geholfen, so Lauterbach. Auch aus heutiger Sicht sei das die richtige Reaktion gewesen. „Die FFP-2-Masken haben uns viel Leid erspart.“ Das RKI habe damals „großartiges geleistet“.
Der frühere Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet (CDU), mahnte im Interview mit dem heute-Journal an, dass alle Unterlagen offengelegt werden. Das verlangte auch der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki heute von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. „Ich fordere Karl Lauterbach deshalb auf, sämtliche Protokolle des RKI-Krisenstabs ohne Schwärzungen zu veröffentlichen“, sagte er.
Debatte um Enquetekommission
Ungeachtet der Debatte um die RKI-Protokolle hatte die FDP in der vergangenen Woche angemahnt, dass eine Enquetekommission die Pandemie aufarbeiten sollte. Lauterbach begründete heute wiederholt seine ablehnende Haltung und verwies auf die Wissenschaftskommission beim Kanzleramt.
„Ich finde es richtig, dass das Thema wissenschaftlich in einem solchen Gremium aufgearbeitet wird. Eine politische Debatte, wie wir sie seit Jahren führen, wo eine kleine Gruppe von Politikern, aber auch Menschen, die vielleicht auch in anderen Bereichen radikale Ideen vertreten, versuchen das Thema zu nutzen, um damit Politik gegen den Staat zu machen – das wird uns nicht nach vorne bringen“, sagte er.
Der Minister stellte heute erneut klar, dass Deutschland „insgesamt gut durch die Pandemie“ gekommen sei. Das sei auch der Leistung des RKI zu verdanken. Man müsse nun nach vorne blicken. Lauterbach betonte, die Arbeitsgruppe für Gesundheit und Resilienz beim Bundeskanzleramt werde versuchen, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Das sei in Teilen auch bereits geschehen.
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen betonte, besonders die sehr konsequenten Maßnahmen während der ersten Welle, als es noch keine Impfung und zu wenig Schutzausrüstung gegeben habe, habe „sehr viele Menschenleben gerettet“. Er wandte sich gegen eine Enquetekommission oder einen Untersuchungsausschuss. „Als Arzt und Politiker finde ich es vor dem Hintergrund der unzähligen Opfer falsch, die Aufarbeitung der Pandemie nun für die anstehenden Wahlkämpfe instrumentalisieren zu wollen“, so Dahmen.
Rückhalt für die FDP-Idee einer Enquetekommission gab es heute von Laschet. Im Interview mit dem heute-Journal sprach dieser sich für eine solche Kommission im Bundestag aus. Ziel müsse es sein, Lehren für eine künftige Pandemie zu ziehen. Während der Pandemie sei viel zu aggressiv und ohne Respekt vor anderen Meinungen diskutiert worden, sagte der frühere NRW-Ministerpräsident.
Die Debatte sei „sehr moralisiert“ gewesen. „Entweder du bist für die eine Maßnahme oder du bist ein Coronaleugner. Es gab aber eine Menge dazwischen.“ Das präge die Gesellschaft bis heute. Wie in der Pandemie mit anderen Meinungen umgegangen worden sei, sei bis heute „Feuer für Populisten und Verschwörungstheoretiker“. Er hoffe, dass sich durch eine neue Dialogkultur, die auch Fehler zugestehe, die Spaltung der Gesellschaft wieder beruhige.
Laschet verwies unter anderem auf die massiven Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie. Die Politik hätte mehr Gespür dafür entwickeln müssen, als wie massiv die Eingriffe empfunden wurden, sagte er. Grundrechtseinschränkungen müssten zudem so schnell wie möglich zurückgenommen werden.
Forderung nach einem Untersuchungsausschuss
Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht forderten eine parlamentarische Aufklärung. „Eine Enquetekommission reicht nicht aus“, sagte Wagenknecht. „Notwendig ist ein Untersuchungsausschuss, um die Zeit mit den größten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik zu beleuchten.“ Der AfD-Gesundheitspolitiker Martin Sichert rief zu Unterstützung dafür auf, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. „Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, was damals wirklich passierte.“
Zuletzt hatten während der Pandemie verantwortliche Politiker Fehler in der Coronapolitik eingeräumt. Helge Braun, bis Ende 2021 Kanzleramtsminister im Kabinett von Angela Merkel (beide CDU), sagte Anfang März dem Spiegel, die Bundesregierung habe anfangs die Wirkmächtigkeit der Impfstoffe zu hoch eingeschätzt.
Man sei davon ausgegangen, dass Geimpfte auch vor Ansteckungen sicher seien. „Wir haben das Impfen als eine Lösung für den Ausstieg aus der Pandemie beworben und eine Erwartung geschürt, die wir am Ende nicht erfüllen konnten.“
Horst Seehofer (CSU), bis zum Regierungswechsel im Dezember 2021 Bundesinnenminister, sagte: „Wir haben Entscheidungen getroffen, denen ich heute nicht mehr zustimmen würde.“ Er nannte als Beispiel nächtliche Ausgangssperren, die kaum Wirkung auf die Unterbrechung der Infektionsketten gehabt hätten. Zudem müsse man mit Forderungen nach einer Zwangsimpfung sehr vorsichtig sein, sagte Seehofer weiter.
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