Was Deutschland vom finnischen Gesundheitssystem lernen könnte

Berlin – Um die Gesundheitsversorgung in strukturschwachen Regionen auch in Zukunft sicherzustellen, könnte sich Deutschland ein Beispiel am finnischen Gesundheitssystem nehmen: Der Ausbau der Digitalisierung ist dort vorangeschritten, neue medizinische Berufsbilder sind etabliert und die Budgetverantwortung wurde Anfang 2023 auf die regionale Ebene verlegt.
Über diese und weitere Ansätze diskutierten Franziska Beckebans, Leiterin Versorgung der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), und der in Finnland lebende freie Journalist und Autor Sven Preusker vor Kurzem in einem Fachgespräch.
Die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und veränderte Erwartungen im Rahmen der Work-Life-Balance würden neue Bedarfe mit sich bringen und veränderte Anforderungen an die Versorgung in Deutschland stellen, insbesondere im ländlichen Raum, betonte Beckebans. In manchen Regionen sei die Versorgungslandschaft bereits heute zu einem Flickenteppich geworden.
Versorgung finde vor Ort statt, deshalb brauche man mehr Handlungsspielraum für regional Beteiligte, flexible Lösungen über die Sektorengrenzen hinweg und Freiraum bei der vertraglichen Ausgestaltung, so Beckebans. In Finnland würde die Budgetverantwortung seit der SOTE-Reform 2023 in der Region liegen – möglicherweise sei dies auch ein Weg für das deutsche Gesundheitssystem, um die finanzielle Basis der Versorgung zu stärken.
Mit der SOTE-Reform wurden darüber hinaus die Sozial- und Gesundheitsversorgung zusammengeführt, erklärte Preusker. Ziel seien unter anderem gleiche Zugangsmöglichkeiten zur Versorgung der gesamten Bevölkerung und die Reduzierung von Ungleichheiten in der Sozial- und Gesundheitsversorgung gewesen.
Im dünn besiedelten Finnland – pro Quadratkilometer leben dort 18 Personen, in Deutschland sind es auf der gleichen Fläche 240 Menschen – konnte mit der SOTE-Reform ein regional organisiertes System in größeren Einheiten erstellt werden. „Die ortsnahe, ambulant-stationäre gesundheitliche Versorgung wurde somit vor allem in der Fläche sichergestellt“, sagte Preusker.
Insgesamt seien nun 21 Regionen sowie die Stadt Helsinki und die autonome Region Åland für die Organisation von Gesundheits-, Sozial- und Rettungsdienst zuständig, erläuterte Preusker. Finanziert werden die Leistungen über staatliche Zuweisungen, die sich unter anderem an der Bevölkerungszahl und Krankheitslast in den Regionen orientieren.
Primärversorgung per Gesundheitszentren
Gesundheitszentren sind in Finnland Hauptanbieter für die ärztliche Primärversorgung. In Sprechstunden, die sowohl von Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Zahnärztinnen und -ärzten als auch von Pflegekräften und Physiotherapeuten angeboten werden, wird die Basisversorgung von chronisch und akut erkrankten Patienten sichergestellt.
Gesundheitsberatungen, Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen, die zahnärztliche Versorgung und Basisdiagnostik gehören zu weiteren zentralen Aufgaben der Gesundheitszentren, erläuterte Preusker. In größeren Zentren stünden auch Bettenabteilungen zur Verfügung. Hier könnten akut Erkrankte beobachtet und chronisch Kranke kurzzeitig versorgt werden.
Ein wichtiger Ansatz wäre es Beckebans zufolge auch für Deutschland, Pflegekräfte, Therapeuten und neue Berufsbilder wie beispielsweise E-Nurses, Physician Assistants oder VERAH/NAPa in die Versorgung einzubeziehen, um Ärztinnen und Ärzte zu entlasten. „In Finnland ist dies schon weit verbreitet. Pflegefachkräfte spielen in der Primärversorgung eine zentrale Rolle“, erklärte Preusker.
Ihre Ausbildung finde ausschließlich an Universitäten statt. Mit bestimmten Weiterbildungen würden sie dazu befähigt, bestimmte Medikamente zu verordnen oder bestimmte Verordnungen von Ärztinnen und Ärzten zu verlängern, erklärte Preusker.
Im Fallmanagement übernehmen sie in den finnischen Gesundheitseinrichtungen wichtige Aufgaben, entscheiden etwa, ob eine ärztliche Untersuchung oder ein ärztlicher Rat notwendig sind. Die Kooperation zwischen den Fachrichtungen und Berufsgruppen in den Krankenhäusern sei geprägt von multiprofessionellen Teams, so Preusker.
Beckebans wies darauf hin, dass in Deutschland noch eine deutliche Arztzentrierung bestehe und die Ärzteschaft der Delegierung von Aufgaben bislang oft skeptisch gegenüberstehe. Dies müsse sich jedoch ändern, um die Versorgung auch in Zukunft sicherstellen zu können und Ärztinnen und Ärzte zu entlasten. Als Beispiel führte sie an, dass in Finnland Pflegefachkräfte die Triage in den Gesundheitszentren übernehmen würden.
Auch die Digitalisierung dient Finnland seit langem als zentrales Werkzeug, um die gesundheitliche Versorgung zu verbessern, erklärte Preusker. Elektronische Rezepte gebe es seit 2008, sie könnten inzwischen auch in Schweden und Estland eingelöst werden. Darüber hinaus sorgten auch elektronische Einweisungen, Überweisungen und Entlassungen sowie digitale Sprechstunden und spezielle E-Health-Services für Patientinnen und Patienten für eine Entlastung des Gesundheitssystems, so Preusker.
Eine landesweite elektronische Patientenakte ermöglicht es finnischen Patientinnen und Patienten seit 2010 zudem, jederzeit auf ihre Arztbriefe, Laborergebnisse, Medikamentenverordnungen und Ähnliches zuzugreifen. Sie dient als Bindeglied zwischen den beteiligten Akteuren und dem Versicherten, betonte Beckebans.
Sie plädierte deshalb auch für eine stärkere digitale Vernetzung in Deutschland. Die Digitalisierung sei ein „Game Changer“, der ganz andere Voraussetzungen biete und die intersektorale Zusammenarbeit verbessern könne, sagte sie.
„Die Versorgung in der Fläche ist eine Zukunftsaufgabe aller Akteurinnen und Akteure“, so Beckebans. „In Finnland sehen wir, dass unter anderem regionale Konzepte, eine neue Aufgabenteilung zwischen den Gesundheitsberufen und die konsequente Digitalisierung einen wichtigen Beitrag leisten, um die Versorgung in der Fläche menschlich und zugleich effizient zu gestalten“.
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