Ärzteschaft

Wege aus der Versorgungskrise im Gesundheitssystem

  • Freitag, 13. September 2024
Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Ingrid Wünning Tschol, Leiterin des Robert Bosch Centrum für Innovationen im Gesundheitswesen, Moderatorin Rebekka Höhl, BDI-Präsidentin Christian Neumann-Grutzeck und der niedersächsische Gesundheitsminister Andreas Philippi /Kurz
Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Ingrid Wünning Tschol, Leiterin des Robert Bosch Centrum für Innovationen im Gesundheitswesen, Moderatorin Rebekka Höhl, BDI-Präsidentin Christian Neumann-Grutzeck und der niedersächsische Gesundheitsminister Andreas Philippi /Kurz

Berlin – Die Versorgungskrise, an deren Beginn das deutsche Gesundheitswesen derzeit stehe, dürfe nicht weiter ignoriert werden. Der Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI) ermahnte heute die Politik.

„Dass die Versorgungskrise bereits begonnen hat, sieht man zum Beispiel daran, dass es für die Patientinnen und Patienten immer schwerer wird, Termine im ambulanten Bereich zu bekommen“, sagte BDI-Präsidentin Christine Neumann-Grutzeck heute auf dem Hauptstadtform des Verbandes. „Manche Patienten finden keine Hausärztinnen und -ärzte mehr.“

Vor diesem Hintergrund müsse die Politik damit aufhören, Patienten weiterhin ein uneingeschränktes Leis­tungsversprechen zu geben, das das Gesundheitssystem infolge fehlender finanzieller und personeller Res­sourcen nicht halten könne.

„Es kann nicht sein, dass die Politik jetzt noch suggeriert, es sei für die Patientinnen und Patienten eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung zu jeder Zeit möglich“, kritisierte Neumann-Grutzeck. Stattdessen müsse die Politik diejenigen stärken, die die Versorgung übernähmen – durch Bürokratieabbau, zum Beispiel, oder durch eine angemessene Finanzierung.

„Wir müssen jetzt das Geld, das uns zur Verfügung steht, in die Strukturen investieren, die wir in der Zukunft benötigen“, forderte die BDI-Präsidentin. „Und wir müssen damit beginnen, die Patienten dahin zu steuern, wo sie bestmöglich versorgt werden. Dafür brauchen wir zum Beispiel in der Notfallversorgung eine einheitliche Ersteinschätzung.“

Für eine bessere Patientensteuerung brachte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bun­destag, Tino Sorge, einen Vorschlag an. Die Steuerung müsste stärker über Anreize laufen, so Sorge. Wenn Menschen zu vielen Fachärztinnen und -ärzten gingen, müsste man für sie über einen höheren Krankenkas­sen­tarif nachdenken, schlug er vor.

Man müsse einer „Flatrate-Mentalität“ entgegenwirken, sagte Sorge. Mit innovativen Steuerungsmodellen könnte man einiges bewirken. Zudem brauche es eine deutliche Entbürokratisierung und weniger Misstrau­enskultur im Gesundheitssystem, betonte er.

Rahmenbedingungen für Arztpraxen verbessern

Neumann-Grutzeck pochte zudem darauf, die Rahmenbedingungen für Ärztinnen und Ärzte so zu verbessern, damit sie ihren Beruf weiter verfolgen und nicht aus bürokratischen oder finanziellen Gründen frustriert ihre Praxis aufgeben. Dazu gehöre, wie die Selbstverwaltung organisiert sei und wie man sich ambulant aufstellen könne, so Neumann-Grutzeck. Vor allem die Stärkung der Praxen sei zentral.

Auch der niedersächsische Gesundheitsminister Andreas Philippi (SPD) sprach sich dafür aus, die Allgemein­medizin attraktiver zu machen. In Niedersachsen sei man im Gespräch, mit allgemeinmedizinischen Lehrstüh­len an den Universitätskliniken entsprechende Tracks bereits für Studierende attraktiver zu gestalten, sagte er.

Zudem sei man mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen in der Diskussion, wie man etwa das Praktische Jahr (PJ) auf dem Land voranbringen könne. „Da haben wir einige gute Ideen“, sagte Philippi.

Daraufhin entgegnete Neumann-Grutzeck, dass man bei der Stärkung der Allgemeinmedizin nicht die Inter­nis­tinnen und Internisten vergessen dürfte. „Rund 30 Prozent der Hausärzte sind Internisten“, erinnerte sie. Auf die Forderung, dass auch diese mehr Förderungen bräuchten, erntete sie großen Applaus der versammelten Ärztinnen und Ärzte.

Unzureichende Vergütung führt zu Aufgabe der Arztpraxis

Eine Teilnehmerin des Hauptstadtforums, eine Endokrinologin aus dem ländlichen Niedersachsen, berichtete, dass sie genau das gemacht habe, was oft gewünscht sei, um die ländliche Versorgung sicherzustellen. Sie sei in eine unterversorgte Region gezogen und habe dort eine Praxis gegründet.

Allerdings fürchtet sie, dass ihre Praxis pleite gehen werde, weil die Vergütung für ihre Leistungen nicht aus­reichen werde. Der einzige Fehler, den sie gemacht habe, erklärte die Endokrinologin, sei keine Praxis über­nommen, sondern unter der Last hoher Investitionskosten neu gegründet zu haben.

Ein anderer Teilnehmer des Hauptstadtforums erklärte, im ambulanten Bereich habe sich eine Struktur ent­wickelt, die „nur noch für Mist Geld bezahlt“. Arztpraxen würden Patienten häufig einbestellen, um wirtschaft­lich überleben zu können und nicht unbedingt, weil dies medizinisch notwendig wäre, erklärte der Arzt. Er forderte deshalb eine andere Vergütungsstruktur für den ambulanten Bereich.

Helfen würde eine Entbudgetierung aller haus- und fachärztlichen Leistungen inklusive einer umfassenden EBM-Reform, erklärte der BDI in einem aktuellen Positionspapier. „Die negativen Folgen der Budgetierung werden zunehmend spürbar“, heißt es darin. „Obwohl der Großteil der Patienten in Praxen behandelt wird, sind die GKV-Ausgaben für die stationäre Versorgung trotz sinkender Fallzahlen doppelt so hoch.“

Vertragsärzte seien durch diese Entwicklung ausgezehrt und demotiviert. „Eine Verlagerung des Leistungsge­schehens in die ambulante Versorgung ist daher nur mit einer Entbudgetierung haus- und fachärztlicher Leis­tungen möglich“, heißt es weiter.

Stärkung der Weiterbildung gefordert

In diesem Zusammenhang fordert der BDI auch eine nachhaltige Finanzierung der ambulanten Weiterbildung. „Damit haus- und fachärztliche Praxen flächendeckend weiterbilden können, muss die fachärztliche Weiterbi­ldung in der vertragsärztlichen Vergütungssystematik adäquat abgebildet werden“, schreibt der Verband.

Mit der Ambulantisierung verlagere sich auch die ärztliche Weiterbildung zunehmend in den ambulanten Bereich. Im EBM werde jedoch weder die ärztliche Leistung des Weiterzubildenden noch der Aufwand für die Weiterbildung abgebildet.

Die Finanzierung erfolge daher durch eine gesonderte Förderung, von der Internistinnen und Internisten so­wohl im haus- als auch im fachärztlichen Bereich jedoch größtenteils ausgeschlossen sind. „Die Ausweitung der Weiterbildungsförderung wäre eine kurzfristig effektive Maßnahme, um dringend benötigte Weiterbil­dungskapazitäten zu schaffen“, betont der BDI.

„Zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung, die fast zu einem Drittel von Internisten sichergestellt wird, wäre es notwendig, die ambulante Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin analog zum Facharzt für Allgemeinmedizin zu fördern.“ Insgesamt werde die bestehende Förderung dem steigenden Bedarf in allen Fachgruppen aber nicht mehr gerecht.

cmk/fos

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