Politik

Weiter scharfer Protest gegen das Intensivpflege- und Rehagesetz

  • Dienstag, 30. Juni 2020
/Change.org
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Berlin – Zwei Tage vor der Abstimmung im Bundestag über das Intensivpflege- und Reha­bilitationsstärkungsgesetz (IPReG) hat sich heute erneut Protest von Betroffenen formiert. Sie erhielten Rückendeckung von der Opposition im Bundestag. Die Große Koalition hat sich heute unterdessen auf minimale Korrekturen an der Reform verstän­digt.

Der Protest richtet sich gegen einen – bereits entschärften – Gesetzentwurf aus dem Haus von Bundesgesund­heitsminister Jens Spahn (CDU). Dieser sieht vor, dass der Medizi­nische Dienst der Krankenversi­che­­rung (MDK) jährlich bei den Betroffenen prüft, ob die Versorgung in der Häuslichkeit „tatsächlich“ und „dauerhaft“ sichergestellt ist.

Wie diese Formulierung zu verstehen ist, bleibt dabei unklar. Klar ist aber, dass damit am Ende die Krankenkassen da­rüber entscheiden, ob Beat­mungs­pa­tien­ten weiterhin zu Hau­se bleiben können oder ins Pflegeheim umziehen müssen. Allerdings heißt es im Gesetz­entwurf auch, dass der Wunsch der Betroffenen zu berücksichtigen ist.

In diesem Punkt will die Koalition offenbar nocheinmal nachbessern, wie Änderungsan­träge zeigen, die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegen. Dort ist nun ergänzt, dass – sofern die Prüfung des MDK ergibt, dass eine medizinische und pflegerische Versorgung am Ort der Leistung nicht sichergestellt ist, eine Nachbesserung in „angemessener Zeit“ erfolgen kann. Dies sei mit der Krankenkasse in einer „Zielvereinbarung“ festzuhalten.

Ob der Zusatz die Kritik entschärft, ist unklar. Denn diese ist grundlegend: Aus Sicht von Betroffenen, die von Beginn des Reformvorhabens an gegen die Pläne Sturm laufen, be­schneidet Spahn mit dem Vorhaben nicht nur das verfassungs­rechtlich garan­tierte Wahl­recht der Betroffenen. Er versetze Betroffene und ihre Familien, die sich für ein Le­ben zu Hause entschieden haben, auch in existentielle Ängste, schreibt die Initiative Change.org.

Protestaktion in Berlin

Bei einer letzten großen Protestaktion von schwerbehinderten und beatmeten Menschen vor dem Brandenburger Tor in Berlin verhüllten sich Betroffene heute, um dagegen zu pro­testieren, dass „Pflegebedürftige“ künftig aus dem gesellschaftlichen leben ausge­schloss­en werden.

Sie übergaben zudem mehr als 207.700 Unterschriften der Petition „Lasst Pflegebedürfti­gen ihr Zuhause! Stoppt das Intensivpflegestärkungsgesetz!“ an Bärbel Bas, stellvertre­ten­de Fraktionsvorsitzende der SPD, Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, Sören Pellmann, Sprecher für Inklusion und Teilhabe der Fraktion Die Linke, und an Nicole Westig, pflegepolitische Sprecherin der FDP.

Aus der Opposition gab es Rückendeckung für die Protestler. „Egal wie es am Donnerstag ausgeht, es ist eine ganz peinliche Nummer, die wir hinter uns haben. 46 Wochen muss­ten Menschen protestieren, dass sie in ihrer eigenen Häuslichkeit gepflegt werden“, be­klagte Corinna Rüffer (Grüne).

Wenn sich abzeichne, dass bis zur Abstimmung im Bundestag keine Lösung gefunden wor­­den sei, brauche es entweder ein Moratorium oder man müsse prüfen, ob das Gesetz den Maßstäben der Verfassung entspreche. „Wir stehen für die UN-Behindertenkonven­ti­on. Wir werden es nicht zulassen, dass ein Teil der Bevölkerung aus der Gesellschaft he­raus exkludiert wird”, kündigte sie an.

Nicole Westig (FDP) sagte: „Ein jeder soll sich nach seinen Möglichkeiten so frei wie mög­lich entfalten können. Und das muss auch für Menschen mit Intensivpflegebedarf gelten.“ Deswegen würden – Grüne, Linke, und freie Demokraten – einen Änderungsantrag ein­reichen, um den schlimmen Passus im Gesetz zu verhindern, dass diejenigen, die häuslich betreut werden, weiterhin so leben könnten.

Sören Pellmann (Linke) erklärte, dass es dem Engagement der Betroffenen und ihrer Un­ter­stützer zu verdanken sei, „dass überhaupt so lange in der Öffentlichkeit diskutiert wor­den ist, dass es einen Widerspruch gegeben hat, dass über 200.000 Menschen in diesem Land gesagt haben, dass das IPReG so nicht den Deutschen Bundestag verlassen darf“.

Die SPD wies darauf hin, dass man wichtige Sätze, die gefordert worden seien, in die Reform hineinver­handelt habe. Dazu gehöre auch der Satz, dass berechtigten Wünschen der Versicher­ten zu entsprechen ist, sagte Bärbel Bas (SPD). Auch habe man reinge­schrie­ben, dass die Möglichkeit der persönlichen Budgets erhalten bleibe.

„Liebe Abgeordnete der SPD, Finger weg von der Selbstbestimmung von Pflegebedürfti­gen! Fallt am Donnerstag nicht um, sondern verteidigt die Grundrechte der Betroffenen”, appellierte hingegen Jens Matk, Vorstand des ALS-Mobil, der die Petition startete, heute bei den Protesten. Dass die Bundesregierung den entmenschlichenden „Heimzwang“-Ge­setz­ent­­wurf von Jens Spahn durch den Bundestag bringen wolle bezeichnete er als „skan­dalös“.

Entsetzt ist auch der Deutsche Pflegerat. Der mahnte heute, es brauche ein Moratorium und einen Aufschub, um nachzubessern. Man betrachte das Gesetzgebungsverfahren „mit Unverständnis und großer Sorge“. „Das Gesetz darf in der bisher vorliegenden Form nicht verabschiedet wer­den.“

Die Abgeordneten sollten „einen schweren Eingriff“ in das Leben und die Selbstbestimm­ung von Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen, die künstliche Beat­mung benötigen, aber ansonsten selbstständig leben können und wollten, verhindern, sagte die DBR-Sprecherratsvorsitzende Verena Bentele.

Die BAG Selbsthilfe schloss sich der Kritik an. „Es wird den Betroffenen zugemutet, immer wieder mit den Krankenkassen über ihre Lebensperspektive verhandeln zu müssen – mit dem Risiko, dass sie nach Einschätzung des Medinischen Dienstes in ein Pflegeheim um­ziehen müssen. Diese Dauerbelastung ist unzumutbar“, kritisiert Martin Danner.

may

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