„Wir alle gehen stets in Rettungsabsicht zur Arbeit“
Hamburg – In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die umstrittenen Triage-Regelungen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gekippt. Gegen den Paragrafen 5c IfSG hatten mehrere Ärztinnen und Ärzte erfolgreich geklagt, die einen Eingriff in ihre Berufs- und Therapiefreiheit fürchteten.
Dazu gehört Alexander Schultze, Facharzt für Innere Medizin mit der Zusatzweiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin und stellvertretender Ärztlicher Leiter der Notaufnahme am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Schultze ist zudem Mitglied des Landesvorstands des Marburger Bundes Hamburg (MB). Die Gewerkschaft hatte die Gruppe unterstützt.
Im Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt erklärt der Notfallmediziner unter anderem, wie er das Urteil aufgenommen hat, warum die Triage-Vorgaben schwierig sind und welche anderen Möglichkeiten es für verbindliche Vorgaben gibt.

5 Fragen an Alexander Schultze, stellvertretender Ärztlicher Leiter der Notaufnahme am UKE
Wie lief die Vorbereitung und Einreichung der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ab?
Als klar wurde, dass es zum Paragrafen 5c des Infektionsschutzgesetzes kommen würde, war sehr schnell offensichtlich, dass wir Ärztinnen und Ärzte, die in der Notfall- und Intensivversorgung tätig sind, damit sehr unzufrieden sind. Über den Marburger Bund sind wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sehr gut vernetzt.
Die Regelung war unserer Meinung nach schlecht gemacht. Sie basierte auf unterkomplexen Vorstellungen davon, wie in einem Notfall Behandlungskapazitäten priorisiert werden. Sie schränkte unserer Meinung nach die ärztliche Freiheit massiv ein, schuf Rechtsunsicherheit und war unpraktikabel. Sie basierte auf einem Misstrauen uns Ärztinnen und Ärzten gegenüber, obwohl wir bereits durch die Berufsordnung daran gebunden sind, stets diskriminierungsfrei zu agieren.
Wir haben uns in Videokonferenzen und Telefonaten untereinander abgestimmt. Als Verfahrensbevollmächtigter wurde Professor Frank Schorkopf von der Universität Göttingen ausgewählt, der in einem iterativen Prozess mit uns den Schriftsatz mit Hilfe unseres Inputs aus der Medizin/Praxis erstellt hat.
Wie bewerten Sie das Urteil jetzt?
Ich freue mich sehr, dass die gesetzliche Regelung für nichtig erklärt wurde. Natürlich hätte ich mich gefreut, wenn dies maßgeblich aufgrund inhaltlicher Überlegungen und nicht aufgrund der Tatsache, dass die Regelungskompetenz hierfür nicht beim Bund liegt, erfolgt wäre. Ich finde es sehr positiv, dass in dem Urteil die Freiheit des Arztberufes so sehr betont wird. Dies ist für alles, was zukünftig – auch in anderen Zusammenhängen – noch gesetzlich geregelt wird, für uns sehr wichtig.
Jetzt sind die Länder am Zug und müssen entsprechende gesetzliche Regelungen treffen. Könnte der damit drohende Flickenteppich nicht sogar noch schlimmer werden als das bisherige Bundesgesetz?
Föderalismus hat, wie alles im Leben, Vor- und Nachteile. Sicherlich ist es schwierig aufgrund der Regelungskompetenz in den Bundesländern bundeseinheitliche Regelungen zu haben. Durch Abstimmungsprozesse kann das aber gelingen.
Der Grund, warum die Regelungskompetenz in den Bundesländern liegt, ist allerdings auch, dass dadurch auf lokale Gegebenheiten und Besonderheiten besonders gut eingegangen werden kann. Komplexe Systeme sind nicht per se schlechte Systeme. Die Strukturen, die zur Notfall- und Intensivversorgung vorhanden sind, sind sehr unterschiedlich in den Regionen in Deutschland. Dass Regelungen auch spezifisch dafür sein können, sehe ich nicht per se als Nachteil.
Wie könnten einheitliche Triage-Vorgaben aussehen, die die ärztliche Berufs- und Therapiefreiheit nicht einschränken und dennoch Menschen mit Behinderungen schützen?
Mir ist bewusst, dass es Menschen gibt, die Sorge haben, dass wir Ärztinnen und Ärzte nicht diskriminierungsfrei agieren. Ich weiß, dass die Sorge aus der Geschichte heraus eine nachvollziehbare Grundlage hatte. Es ist furchtbar, was Ärztinnen und Ärzte, zum Beispiel im Holocaust gemacht haben.
Mein Eindruck ist, dass die Ärzteschaft in Deutschland insbesondere aufgrund dieser Erfahrungen ihr ethisches Verständnis stark weiterentwickelt hat. Dies kommt in unserer Berufsordnung, die auch das Genfer Gelöbnis enthält, sehr klar zum Ausdruck.
Es ist schwierig, jede mögliche Konstellation vorherzusehen, in der es zu einem Engpass von Behandlungskapazitäten kommen kann. Um dem begegnen zu können, ist es für uns wichtig, in diesen Fällen möglichst viele Freiheitsgrade zu haben, damit wir so vielen Menschen wie möglich helfen können. Formale und bürokratische Vorgaben könnten uns daran hindern, dies nach bestem Wissen und Gewissen zu tun.
Wir alle gehen stets in Rettungsabsicht zur Arbeit. Pauschale oder praxisferne Vorgaben helfen nicht. Für uns ist natürlich Rechtssicherheit wichtig. Rechtsunsicherheit durch schlecht gemachte Regelungen wäre eine Verschlechterung der Situation.
Ob die Bundesländer wirklich konkrete Triage-Vorgaben gesetzlich regeln müssen, da bin ich skeptisch. Das Ob und Wie einer Behandlung erfordert ärztliche Expertise. Ich verstehe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021 so, dass der Gesetzgeber einen „hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung“ bewirken müsse. Und eine solide Grundlage dafür, dass keine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung erfolgt, ist auch meiner Meinung nach sehr wichtig.
Aktuell ist es so, dass zum Beispiel im Hamburgischen Kammergesetz für die Heilberufe (HmbKGH) in Paragraf 27 Absatz 1 explizit folgender Sachverhalt geregelt ist: „Die Kammermitglieder sind verpflichtet, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihnen im Zusammenhang mit ihrer Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen.“ Gemäß Paragraf 28 Absatz 1 dieses Gesetzes gibt es eine Berufsordnung, dabei gilt: „Nähere Bestimmungen zu den Berufspflichten (Paragraf 27) trifft die Kammer als Satzung (Berufsordnung).“
In der Berufsordnung in Hamburg ist in der Präambel klar geregelt, dass wir nicht zulassen, „dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“
Das war auch ein Prozess innerhalb der Ärztekammern, dieses Bekenntnis so klar zu positionieren. Ich bin kein Jurist, aber nach meinem Verständnis ist das schon jetzt verbindlich für uns. Verstöße gegen die Berufsordnung können weitgehende Folgen für uns Ärztinnen und Ärzte haben. Verbindliche Vorgaben sind wichtig, damit sich die Bevölkerung darauf verlassen kann, dass wir sie einhalten.
Das Urteil befasst sich nur mit den Triage-Vorgaben im Sinne des Infektionsschutzgesetzes. Gibt es Regelungen, wenn Triage – etwa in einem Katastrophen-, Krisen- oder sogar Kriegsfall – nötig wird? Wie sehen diese aus?
Nein, solche gesetzlichen Regelungen sind mir nicht bekannt.
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