Wissenschaftler wollen Diskussion zur Psychotherapieplatzvergabe anregen

Duisburg – Viele psychische Krisen sind einem wissenschaftlichen Beitrag zufolge oft normale Reaktionen auf Lebensereignisse ohne Bedarf auf eine Psychotherapie. In der Praxis würden möglicherweise oft Störungen behandelt, die bei genauerer Betrachtung keine sind.
Das schreiben die Psychologen Marcus Roth und Gisela Stein von der Universität Duisburg-Essen (UDE) in der Psychologischen Rundschau (2024, DOI: 10.1026/0033-3042/a000678). Man sei sich der Brisanz der Aussagen „durchaus bewusst“, wolle aber angesichts der Krankenkassenfinanzen eine Diskussion anregen, erläuterten der Professor für Differentielle Psychologie und die Professorin für Allgemeine Psychologie und Sozialpsychologie.
So stellt den Autoren zufolge die „Anpassungsstörung“ bei den Psychologischen Psychotherapeuten die Hauptdiagnose dar. Es lasse sich nicht gänzlich ausschließen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Patienten subjektives Leiden als psychische Störung missdeute, daher einen Psychotherapeuten aufsuche, der möglicherweise mit der „Anpassungsstörung“ dafür eine „passende“ Diagnose zur Hand habe und so diese Pathologisierungstendenz unterstütze. Gleichzeitig gehen die beiden Psychologen explizit „nicht davon aus, dass in psychotherapeutischen Praxen ausschließlich leichte Fälle behandelt werden“.
Wer sich in Deutschland derzeit um eine Psychotherapie bemüht, wartet nach Zahlen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), die die Autoren heranziehen, im Schnitt 20 Wochen auf einen Therapieplatz. Ein Termin für ein psychotherapeutisches Erstgespräch ist nach drei bis vier Wochen zu bekommen.
Die Wissenschaftler der UDE stellen heraus, dass die Nachfrage das Angebot deutlich übersteigt, obwohl sich die Zahl der niedergelassenen Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten von 2006 auf 2021 um mehr als verdoppelt habe: von 16.459 auf 37.280 Sitze (BPtK), halbe Zulassungen nicht herausgerechnet.
Gleichzeitig ist die 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen mit 27.8 % dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge seit Jahren relativ stabil. Angststörungen stellen dabei mit 15,3 % die häufigste Diagnose dar, gefolgt von Affektiven Störungen (9,3 %) und Störungen durch Substanzgebrauch (ohne Nikotinabhängigkeit: 5,7 %).
Roth und Steins sehen als möglichen Grund für diese Diskrepanz neben der beschriebenen „Diagnosekultur“ eine „überbordende Sensibilisierung der Gesellschaft, in der Persönlichkeitsunterschiede und vorübergehende seelische Krisen zunehmend pathologisiert werden“. Hinzu komme die „zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft für psychische Symptome“.
Die Autoren begrüßen zwar, dass psychotherapeutische Behandlung heute kein Tabu mehr darstellt. Diese Einstellung könne aber auch dazu führen, dass Menschen dazu tendierten, Krisen auf psychische Syndrome zurückzuführen und nicht auf belastende Ereignisse oder eine Bandbreite des „Normalen“. Wo ende beispielsweise nach einem Verlust zu erwartende Trauer, wo beginne eine Depression, fragen sie.
Die Psychologen schlagen in ihrem Beitrag einen alternativen Pfad vor, der die Solidargemeinschaft weniger belastet und gleichzeitig Therapieplätze schafft für diejenigen, die sie aufgrund ihrer klinischen Symptomatik dringend benötigen.
Erwachsene, die unter psychischen Beeinträchtigungen leiden, aber nicht unbedingt eine Psychotherapie benötigen, sollten niedrigschwellige Angebote erhalten wie zum Beispiel Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Onlineangebote.
Doch wer entscheidet, wer eine Psychotherapie benötigt und wer nicht? Psychotherapeuten könnten einwenden, dass im Rahmen der psychotherapeutischen Sprechstunde beziehungsweise dortigen Diagnostik genau das abgeklärt wird.
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