Zu viel Diagnostik und falsche Medikamente bei Reizdarmsyndrom

Berlin – Die Krankenkasse Barmer sieht Menschen mit Reizdarmsyndrom (RDS) in Deutschland oftmals falsch behandelt. Die Krankenkasse geht davon aus, dass hierzulande rund elf Millionen Menschen vom Reizdarmsyndrom betroffen sind. Zwar wurde 2017 nur bei rund einer Million Menschen die entsprechende Diagnose gestellt. Doch die Barmer geht nach der Auswertung von Befragungsstudien davon aus, dass rund 16 Prozent der Erwachsenen – also etwa elf Millionen Menschen – in Wirklichkeit betroffen sind.
„Die Diskrepanz ist somit enorm und ein deutliches Zeichen dafür, dass die Erkrankung nach wie vor ein Tabuthema ist“, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Christoph Straub, bei der Vorstellung des diesjährigen Arztreportes. Diese Patienten werden oftmals nicht richtig versorgt, beklagt die Kasse. Zum einen dauert es oftmals bis zu acht Jahre, bis ein Patient mit den Symptomen zum Arzt geht. Danach dauere es oft weitere Jahre, bis es zu einer Diagnose kommt, da auch die Anamnese gründlich durchgeführt werden muss.
Die Behandlungskosten steigen laut Barmer aber noch einmal „massiv“ an, da zur Diagnosestellung „Verfahren zum Einsatz kommen, deren Nutzen bei dieser Erkrankung zumindest zweifelhaft erscheinen“, so Straub. Dabei spielte er auf die bildgebenden Verfahren an, die zur Abklärung eines Reizdarmsyndroms eingesetzt werden, aber nicht explizit vorgesehen sind. In 9,2 Prozent der Fälle aus dem ambulanten Bereich werde im Umfeld solch einer Diagnose ein CT angefertigt. Auch ein MRT werde unnötigerweise in der Diagnose ambulant in 17,1 Prozent der Fälle eigesetzt.
Auch bei der Therapie erkennen die Barmer sowie Studienautor Joachim Szecsenyi, Geschäftsführer des Göttinger AQUA-Institutes, „Schwächen“. Hier würden Patientinnen und Patienten besonders häufig Protonenpumpenhemmer verordnet bekommen, bei etwa 38,6 Prozent der Fälle sei dies so. „Dieser Umstand ist zumindest kritisch zu hinterfragen. Schließlich besteht hier die Gefahr, dass die Medikamente abhängig machen können oder das Osteoporoserisiko erhöhen“, so Straub. Auch die vermehrte Verschreibung von Opioiden kritisiert die Kasse.
Die deutliche Zunahme von Diagnosen bei jungen Erwachsenen fällt bei den Studienergebnissen besonders ins Auge: Von den elf Millionen betroffenen Menschen sind vor allem junge Versicherte zwischen 23 und 27 Jahren davon betroffen. Etwa 68.000 Menschen zählt die Kasse hier. Zwischen 2005 und 2017 gibt es in der Patientengruppe einen Zuwachs von fast 70 Prozent.
„In den aktuellen Daten hat die Zunahme der Diagnosen bei jungen Frauen im Alter um die 25 Jahre zu einem ausgeprägten ersten Altersgipfel der Diagnosehäufigkeit geführt“, erklärt Szecsenyi. Als Studienautor und Hausarzt führt er es auch darauf zurück, dass junge Erwachsene veränderte Ernährungsgewohnheiten aber auch eine veränderte Bereitschaft zur Thematisierung der Beschwerden haben. „Ich glaube nicht, dass die jungen Menschen heute kränker sind als vor 30 Jahren“, so Szecsenyi. Vielmehr müsse man das gesellschaftliche Phänomen der Überlastung sowie das Nachdenken über die eigene Gesundheit weiter befördern.
„Junge Menschen präsentieren ihre Belastungssituationen heute anders. Ob dabei die Belastungen wie Kopfschmerzen oder Reizdarmsyndrom wirklich häufiger werden, können wir nicht direkt bewerten“, erklärt Barmer-Chef Straub auf Nachfrage. Er stelle aber die Hypothese auf, dass die Herausforderungen sowie der Umgang der digitalen Welt insgesamt in der Gesellschaft noch erlernt werden müssen. Auch die Krankenkassen wollen hier Angebote für ihre Versicherten entwickeln, junge Menschen besser zu unterstützen.
Der Barmer-Arztreport erscheint seit 2006 und soll einen Überblick über die ambulant-ärztliche Versorgung geben. Für den Bericht kann auf die Daten der 9,3 Millionen Barmer-Versicherten zugegriffen werden, das seien nach eigenen Angaben gut elf Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Demnach hatten im Jahr 2017 nahezu unverändert 93 Prozent der Bevölkerung mindestens einen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt oder Psychotherapeuten. Nach Hochrechnungen der Barmer müssten die Zahl der abgerechneten Behandlungsfälle bei etwa 709 Millionen gelegen haben. Nach Berechnungen der Krankenkasse wurden pro Person im Schnitt 572 Euro für die ambulant-ärztliche Versorgung aufgewendet. Dabei sind die Verordnungen für Arzneimittel sowie Heil- und Hilfsmittel nicht reingerechnet. 2016 lag dieser Wert neun Euro niedriger. Laut den Kassendaten liegen die Kosten für die medizinische Versorgung in den Stadtstaaten am höchsten. Hamburg liegt mit 650 Euro vorn, darauf folgen Berlin mit 643 Euro und Bremen mit 594 Euro.
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