Neue S2k-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter vorgestellt

Berlin – Nach sieben Jahren Arbeit ist diese Woche die lang erwartete S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erstmals vorgestellt worden. Die Beteiligten können noch etwa drei Wochen kommentieren, bevor die finale Version veröffentlicht wird.
Trotz des kontrovers diskutierten Themas, haben 27 Fachgesellschaften sowie zwei Vertretungsorganisationen von Behandlungssuchenden in den meisten Fragen einen Konsens von mehr als 95 Prozent gefunden. Einig wurde man sich auch bei der Frage zum Einsatz der Pubertätsblocker, die bisher die meisten Diskussionen hervorgerufen hatten.
Die neue Leitlinie, die neben Deutschland auch in Österreich und der Schweiz gültig sein wird, positioniert sich im Vergleich zu nationalen Empfehlungen in den Ländern Schweden, Finnland sowie des NHS England (ohne Schottland, Wales und Nordirland) weniger restriktiv beim Einsatz von Pubertätsblockern und geschlechtsangleichenden Hormonbehandlungen.
Wie die Leitlinien internationaler medizinischer Fachgesellschaften (etwa WPATH) haben sich die Autorinnen und Autoren der neuen Leitlinie für weniger strenge Indikations- und Zugangskriterien bei Pubertätsblockern entschieden.
Aufgrund von Fallberichten, bei denen Personen eine zu frühe und schnelle Behandlung mit Pubertätsblockern und einer Hormonbehandlung später bereut haben und der schwachen Evidenzlage bei Studien mit positiven Outcomes für Pubertätsblockade oder Hormonen, agieren einige Länder inzwischen bei der Behandlung von Jugendlichen vorsichtiger.
In Großbritannien hat der nationale Gesundheitsdient eine verbindliche Empfehlung ausgesprochen, Pubertätsblocker nur noch im Rahmen klinischer Studien einzusetzen. Auch in Schweden haben sich zwei autonome staatliche Stellen dazu entschlossen eine unverblindliche Empfehlung herauszugeben, die besagt, dass Pubertätsblocker, Hormonen oder durch Operationen vor dem 18. Lebensjahr nur noch im Rahmen von klinischen Studien empfohlen werden sollten. Diese Studien sind noch nicht gestartet.
Divergierende Behandlungsempfehlungen weltweit
Diese Einschränkung wird es im deutschsprachigen Raum nicht geben, sagte Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Autorin der Leitlinie. Tatsächlich verboten seien Pubertätsblocker in Europa aber nur in Russland, stellte sie bei einer Pressekonferenz des Science Media Center gestern klar.
Zunehmend gesetzliche Verbote für hormonelle Behandlungen bei Jugendlichen innerhalb westlicher Industrienationen gibt es zudem in republikanisch regierten Staaten der USA.
In Deutschland werde ein solches gesetzliches Verbot bisher nur von der AfD gefordert, heißt es in der Leitlinie.
Man unterscheide sich ansonsten lediglich durch mehr oder weniger strenge Indikations- und Zugangskriterien. Aufgrund irreführender Medienberichte diesbezüglich haben die Autoren in der Leitlinie divergierende Behandlungsempfehlungen weltweit aufgelistet.
Voraussetzungen für eine Pubertätsblockade
Eine zentrale Sorge beim hormonellen Eingriff im jungen Alter, ist der weitere Entwicklungsverlauf. Ist die Diagnose Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie endgültig?
Die Datenlage erlaube zwar keine verallgemeinerbaren Annahmen zu Persistenzraten, heißt es im Fazit. Gab es jedoch bereits vor der Pubertät deutliche Hinweise für eine Geschlechtsinkongruenz, zeige sich unter dem Einfluss der Pubertät typischerweise bis zum 13. Lebensjahr deutlich, ob eine Geschlechtsinkongruenz persistiere.
Für Deutschland, Schweiz und Österreich konnten sich die Autoren auf folgende Voraussetzung für eine Pubertätsblockade einigen (starker Konsens >95 %): Fachpersonen sollen nicht nur eine persistierende Geschlechtsinkongruenz im Jugendalter entsprechend ICD 11 (WHO, 2022) feststellen.
Gleichzeitig müsse auch ein geschlechtsdysphorischer Leidensdruck bestehen. Die alleinige Diagnose einer vor Eintritt der Pubertät festgestellten Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter (ICD-11, HA61) reiche nicht aus.
Eine Indikationsstellung zur Pubertätsblockade bei Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz beziehungsweise Geschlechtsdysphorie sollte zudem zweigleisig erfolgen (100 Prozent Konsens).
Zum einen bedarf es einer Einzelsituation angemessenen kinder- und jugendpsychiatrischen beziehungsweise –psychotherapeutische diagnostischen Einschätzung. Zum anderen empfiehlt die Leitlinie eine erfahrene pädiatrisch-endokrinologische Fachperson zur Rate zu ziehen.
Von starren Altersgrenzen habe man sich ferngehalten, erklärte Achim Wüsthof, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Endokrinologikum Hamburg und Autor der Leitlinie. „Wichtig ist, dass keine präventive Pubertätsblockade stattfindet. Wir warten bis die Pubertät de facto begonnen hat.“
Denn man habe Fälle erlebt, bei denen die Geschlechtsidentität durch Sexualhormone noch mal ins Wanken gekommen sei und „eine Versöhnung mit dem Körper stattgefunden hätte“, berichtete Wüsthof bei der Pressekonferenz.
Pubertätsblockade prinzipiell reversibel, aber nicht immer folgenlos
Der Wunsch nach einer Detransition (nach geschlechtsangleichenden körpermodifizierenden medizinischen Maßnahmen) sei die absolute Ausnahme, so die Erfahrung des Facharzts aus Hamburg. „In den vergangenen 15 Jahren habe ich in meinem Kollektiv etwa 800 Jugendliche gesehen. In fünf Fällen habe ich es erlebt, dass Personen ihren Entschluss wieder rückgängig machen wollten.“
Eine kleine Minderheit entscheide sich auch dafür, die Pubertätsblockade abzubrechen, berichtete Pauli. Diese sei prinziell umkehrbar (JCEM 2017; DOI: 10.1210/jc.2017-01658). Dies bedeutet, dass bei Absetzen der Behandlung die weitere genetisch angelegte pubertäre Reifung vollständig erfolgen könne.
In der Leitlinie wird aber auch darauf hingewiesen, dass durch einen möglicherweise verspätet einsetzenden Schluss der Epiphysenfuge mögliche Auswirkungen auf die körperliche Endgröße zu berücksichtigen sind.
Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass mit der vorübergehenden Pubertätsblockade die psychosexuelle Entwicklung, zum Beispiel durch die Verzögerung von pubertären Hirnreifungsprozessen, beeinflusst werden könne.
Schutzwürdigkeit des Rechts auf Selbstbestimmung
Miteingeflossen in die Leitlinie ist auch die Erklärung des Deutschen Ethikrats. Diese hatten bereits 2020 die Schutzwürdigkeit des Rechts auf Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität betont und bei medizinischen Behandlungsentscheidungen eine sorgsame Nutzen-Risiken-Abwägung gefordert – sowohl einer Behandlung als auch eines Unterlassens einer solchen Behandlung.
„Diese Menschen sind in schweren Krisensituationen“, bekräftigte Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen und Autorin der Leitlinie. Die Pubertätsblockade ermögliche ihnen einen Entwicklungsraum für eine reflektierte Entscheidung über die eigene Zukunft.
„Das zu verweigern, aus Sorge vor Nebenwirkungen, ist medizinisch und ethisch unangemessen. Im Vergleich zu der Krisensituation sind die Nebenwirkungen einer Pubertätsblockade für die Betroffenen in aller Regel unerheblich“, ist Wiesemann überzeugt. Dennoch betonte Pauli: „Es kann Nebenwirkungen geben, über die wir aufklären müssen.“
Ausführlich beschrieben würden in der Leitlinie etwa die möglichen Auswirkungen auch auf die Fertilität. Die an der Leitlinie beteiligten klinischen Expertinnen und Experten kommen aber zu dem Schluss, dass unerwünschte somatische Nebenwirkungen bei fachgerechter Anwendung, insbesondere im Hinblick auf das endokrinologische Monitoring und eine vertretbar zeitlich begrenzte Dauer der Behandlung, nach überwiegender Erfahrung eher selten seien.
Internationale Organisation in der Kritik
Sorge vor nicht berücksichtigten Nebenwirkungen und dem unzureichenden Urteilsvermögen der Minderjährigen kamen zuletzt aufgrund der Nachrichten-Leaks innerhalb der World-Professional-Association-for-Transgender-Health (WPATH) auf (Guardian 2024).
Pauli sieht in den internen Chatnachrichten eher einen Beweis dafür, dass auch WPATH das Thema differenziert diskutiert. „Es ist, wie der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hoc Stellungnahme 2020 festgestellt hat, ein Dilemma, dass die pubertären Veränderungen oft eintreten, wenn die Jugendlichen noch nicht voll urteilsfähig und entscheidungsfähig über medizinische Maßnahmen sind“, sagte sie dem Deutschen Ärzteblatt im Nachgang der Pressekonferenz.
Die Sorgeberechtigten müssten teilweise für die jüngeren Jugendlichen Entscheidungen treffen beziehungsweise maßgeblich mitentscheiden, wobei die noch nicht voll urteilsfähigen Jugendlichen bestmöglich einzubeziehen seien.
Die WPATH-Leitlinien wurden auch von der Leitliniengruppe aus dem deutschsprachigen Raum einbezogen. „Sie waren aber nicht in allen Punkten maßgeblich. Gerade im Punkt der Entscheidungsfähigkeit beziehungsweise Urteilsfähigkeit sind die neuen deutschsprachigen Leitlinien viel differenzierter und der Rechtslage im deutschen Sprachraum angepasst“, erklärte die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.
Evidenzlage noch unzureichend für S3-Leitlinie
Die Evidenzlage zum Einsatz der Pubertätsblocker und/oder geschlechtsangleichender Hormone verbessere sich basierend auf Verlaufsstudien, so Pauli (JAMA Network Open 2022; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2022.0978; NEJM 2023; DOI: 10.1056/NEJMoa2206297).
Und auch Cecilia Dhejne, Fachärztin für Psychiatrie und Sexualmedizin am Karolinska Universitätskrankenhaus in Stockholm bestätigte: Es liegen derzeit noch wenige randomisiert kontrollierte Studien vor. Die Evidenz verbessere sich aber stetig.
Die Voraussetzungen für eine S3-Leitlinie konnte aktuell aber nicht erreicht werden. Dafür hätten mehr als 50 Prozent der Empfehlungen evidenzbasiert sein müssen. Die neue Leitlinie löst die 1999 erstmals erstellte und 2013 aktualisierte S1-Leitlinie ab. Sie soll aktuelle Behandlungsstandards bündeln – basierend auf Evidenz und breitestmöglichem Konsens.
Ein weiteres Ziel der Autoren der Leitlinie bestand darin, nicht allein die weiterhin unsichere wissenschaftliche Evidenzlage und die Empfehlungen bereits bestehender internationaler Leitlinien zu bündeln – die bisher aktuellste Leitlinie stammte von WPATH aus 2022 (Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2012: DOI: 10.1016/j.jaac.2012.07.004; International Journal of Transgenderism 2012; DOI: 10.1080/15532739.2011.700873; The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 2017; DOI: 10.1210/jc.2017-01658, International Journal of Transgender Health 2022; DOI: 10.1080/26895269.2022.2100644).
Darüber hinaus sollten Fragestellungen identifiziert werden, die für die Diagnose und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie relevant sind, aber noch nicht in publizierten Leitlinien behandelt wurden.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: