Ärzteschaft

Neue S2k-Leitlinie zu Geschlechts­inkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter vorgestellt

  • Freitag, 22. März 2024
/PlutusART, stock.adobe.com
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Berlin – Nach sieben Jahren Arbeit ist diese Woche die lang erwartete S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Be­handlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erstmals vor­gestellt worden. Die Beteiligten können noch etwa drei Wochen kommentieren, bevor die finale Version ver­öffentlicht wird.

Trotz des kontrovers diskutierten Themas, haben 27 Fachgesellschaften sowie zwei Vertretungsorganisationen von Behandlungssuchenden in den meisten Fragen einen Konsens von mehr als 95 Prozent gefunden. Einig wurde man sich auch bei der Frage zum Einsatz der Pubertätsblocker, die bisher die meisten Diskussionen hervorgerufen hatten.

Die neue Leitlinie, die neben Deutschland auch in Österreich und der Schweiz gültig sein wird, positioniert sich im Vergleich zu nationalen Empfehlungen in den Ländern Schweden, Finnland sowie des NHS England (ohne Schottland, Wales und Nordirland) weniger restriktiv beim Einsatz von Pubertätsblockern und ge­schlechtsangleichenden Hormonbehandlungen.

Wie die Leitlinien internationaler medizinischer Fachgesellschaften (etwa WPATH) haben sich die Autorinnen und Autoren der neuen Leitlinie für weniger strenge Indikations- und Zugangskriterien bei Pubertätsblockern entschieden.

Aufgrund von Fallberichten, bei denen Personen eine zu frühe und schnelle Behandlung mit Pubertätsblo­ckern und einer Hormonbehandlung später bereut haben und der schwachen Evidenzlage bei Studien mit positiven Outcomes für Pubertätsblockade oder Hormonen, agieren einige Länder inzwischen bei der Be­handlung von Jugendlichen vorsichtiger.

In Großbritannien hat der nationale Gesundheitsdient eine verbindliche Empfehlung ausgesprochen, Puber­tätsblocker nur noch im Rahmen klinischer Studien einzusetzen. Auch in Schweden haben sich zwei autono­me staatliche Stellen dazu entschlossen eine unverblindliche Empfehlung herauszugeben, die besagt, dass Pubertätsblocker, Hormonen oder durch Operationen vor dem 18. Lebensjahr nur noch im Rahmen von klinischen Studien empfohlen werden sollten. Diese Studien sind noch nicht gestartet.

Divergierende Behandlungsempfehlungen weltweit

Diese Einschränkung wird es im deutschsprachigen Raum nicht geben, sagte Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Autorin der Leitlinie. Tatsächlich verboten seien Pubertätsblocker in Europa aber nur in Russland, stellte sie bei einer Pressekonferenz des Science Media Center gestern klar.

Zunehmend gesetzliche Verbote für hormonelle Behandlungen bei Jugendlichen innerhalb westli­cher Industrienationen gibt es zudem in republi­kanisch regierten Staaten der USA.

In Deutschland werde ein solches gesetzliches Verbot bisher nur von der AfD gefordert, heißt es in der Leitlinie.

Man unterscheide sich ansonsten lediglich durch mehr oder weniger strenge Indikations- und Zu­gangskriterien. Aufgrund irreführender Medienbe­richte diesbezüglich haben die Autoren in der Leit­linie divergierende Behandlungsempfeh­lungen weltweit aufgelistet.

Voraussetzungen für eine Pubertätsblockade

Eine zentrale Sorge beim hormonellen Eingriff im jungen Alter, ist der weitere Entwicklungsverlauf. Ist die Diagnose Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie endgültig?

Die Datenlage erlaube zwar keine verallgemeinerbaren Annahmen zu Persistenzraten, heißt es im Fazit. Gab es jedoch bereits vor der Pubertät deutliche Hinweise für eine Geschlechtsinkongruenz, zeige sich unter dem Einfluss der Pubertät typischerweise bis zum 13. Lebensjahr deutlich, ob eine Geschlechtsinkongruenz persistiere.

Für Deutschland, Schweiz und Österreich konnten sich die Autoren auf folgende Voraussetzung für eine Pubertätsblockade einigen (starker Konsens >95 %): Fachpersonen sollen nicht nur eine per­sistierende Geschlechtsinkongruenz im Jugend­alter entsprechend ICD 11 (WHO, 2022) fest­stellen.

Gleichzeitig müsse auch ein geschlechtsdysphori­scher Leidensdruck bestehen. Die alleinige Diag­nose einer vor Eintritt der Pubertät festgestellten Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter (ICD-11, HA61) reiche nicht aus.

Eine Indikationsstellung zur Pubertätsblockade bei Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz be­ziehungsweise Geschlechtsdysphorie sollte zudem zweigleisig erfolgen (100 Prozent Konsens).

Zum einen bedarf es einer Einzelsituation ange­messe­nen kinder- und jugendpsychiatrischen be­zie­hungsweise –psychotherapeutische diagnosti­schen Einschätzung. Zum anderen empfiehlt die Leitlinie eine erfahrene pädiatrisch-endokrinologische Fachperson zur Rate zu ziehen.

Von starren Altersgrenzen habe man sich ferngehalten, erklärte Achim Wüsthof, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Endokrinologikum Hamburg und Autor der Leitlinie. „Wichtig ist, dass keine präventive Pubertätsblockade stattfindet. Wir warten bis die Pubertät de facto begonnen hat.“

Denn man habe Fälle erlebt, bei denen die Geschlechtsidentität durch Sexualhormone noch mal ins Wanken gekommen sei und „eine Versöhnung mit dem Körper stattgefunden hätte“, berichtete Wüsthof bei der Presse­konferenz.

Pubertätsblockade prinzipiell reversibel, aber nicht immer folgenlos

Der Wunsch nach einer Detransition (nach geschlechtsangleichenden körpermodifizierenden medizinischen Maßnahmen) sei die absolute Ausnahme, so die Erfahrung des Facharzts aus Hamburg. „In den vergangenen 15 Jahren habe ich in meinem Kollektiv etwa 800 Jugendliche gesehen. In fünf Fällen habe ich es erlebt, dass Personen ihren Entschluss wieder rückgängig machen wollten.“

Eine kleine Minderheit entscheide sich auch dafür, die Pubertätsblockade abzubrechen, berichtete Pauli. Diese sei prinziell umkehrbar (JCEM 2017; DOI: 10.1210/jc.2017-01658). Dies bedeutet, dass bei Absetzen der Be­handlung die weitere genetisch angelegte pubertäre Reifung vollständig erfolgen könne.

In der Leitlinie wird aber auch darauf hingewiesen, dass durch einen möglicherweise verspätet einsetzenden Schluss der Epiphysenfuge mögliche Auswirkungen auf die körperliche Endgröße zu berücksichtigen sind.

Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass mit der vorübergehenden Pubertätsblockade die psychosexu­elle Entwicklung, zum Beispiel durch die Verzögerung von pubertären Hirnreifungsprozessen, beeinflusst werden könne.

Sch­utzwürdigkeit des Rechts auf Selbstbestimmung

Miteingeflossen in die Leitlinie ist auch die Erklärung des Deutschen Ethikrats. Diese hatten bereits 2020 die Schutzwürdigkeit des Rechts auf Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen bezüglich ihrer ge­schlecht­lichen Identität betont und bei medizinischen Behandlungsentscheidungen eine sorgsame Nutzen-Risiken-Abwägung gefordert – sowohl einer Behandlung als auch eines Unterlassens einer solchen Behandlung.

„Diese Menschen sind in schweren Krisensituationen“, bekräftigte Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen und Autorin der Leitlinie. Die Pubertäts­blockade ermögliche ihnen einen Entwicklungsraum für eine reflektierte Entscheidung über die eigene Zu­kunft.

„Das zu verweigern, aus Sorge vor Nebenwirkungen, ist medizinisch und ethisch unangemessen. Im Vergleich zu der Krisensituation sind die Nebenwirkungen einer Pubertätsblockade für die Betroffenen in aller Regel unerheblich“, ist Wiesemann überzeugt. Dennoch betonte Pauli: „Es kann Nebenwirkungen geben, über die wir aufklären müssen.“

Ausführlich beschrieben würden in der Leitlinie etwa die möglichen Auswirkungen auch auf die Fertilität. Die an der Leitlinie beteiligten klinischen Expertinnen und Experten kommen aber zu dem Schluss, dass uner­wünschte somatische Nebenwirkungen bei fachgerechter Anwendung, insbesondere im Hinblick auf das en­dokrinologische Monitoring und eine vertretbar zeitlich begrenzte Dauer der Behandlung, nach überwiegen­der Erfahrung eher selten seien.

Internationale Organisation in der Kritik

Sorge vor nicht berücksichtigten Nebenwirkungen und dem unzureichenden Urteilsvermögen der Minderjäh­ri­gen kamen zuletzt aufgrund der Nachrichten-Leaks innerhalb der World-Professional-Association-for-Trans­gender-Health (WPATH) auf (Guardian 2024).

Pauli sieht in den internen Chatnachrichten eher einen Beweis dafür, dass auch WPATH das Thema differen­ziert diskutiert. „Es ist, wie der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hoc Stellungnahme 2020 festgestellt hat, ein Dilemma, dass die pubertären Veränderungen oft eintreten, wenn die Jugendlichen noch nicht voll urteils­fähig und entscheidungsfähig über medizinische Maßnahmen sind“, sagte sie dem Deutschen Ärzteblatt im Nachgang der Pressekonferenz.

Die Sorgeberechtigten müssten teilweise für die jüngeren Jugendlichen Entscheidungen treffen bezie­hungs­weise maßgeblich mitentscheiden, wobei die noch nicht voll urteilsfähigen Jugendlichen bestmöglich einzu­beziehen seien.

Die WPATH-Leitlinien wurden auch von der Leitliniengruppe aus dem deutschsprachigen Raum einbezogen. „Sie waren aber nicht in allen Punkten maßgeblich. Gerade im Punkt der Entscheidungsfähigkeit beziehungs­weise Urteilsfähigkeit sind die neuen deutschsprachigen Leitlinien viel differenzierter und der Rechtslage im deutschen Sprachraum angepasst“, erklärte die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychothe­rapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich.

Evidenzlage noch unzureichend für S3-Leitlinie

Die Evidenzlage zum Einsatz der Pubertätsblocker und/oder geschlechtsangleichender Hormone verbessere sich basierend auf Verlaufsstudien, so Pauli (JAMA Network Open 2022; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2022.0978; NEJM 2023; DOI: 10.1056/NEJMoa2206297).

Und auch Cecilia Dhejne, Fachärztin für Psychiatrie und Sexualmedizin am Karolinska Universitätskranken­haus in Stockholm bestätigte: Es liegen derzeit noch wenige randomisiert kontrollierte Studien vor. Die Evi­denz verbessere sich aber stetig.

Die Voraussetzungen für eine S3-Leitlinie konnte aktuell aber nicht erreicht werden. Dafür hätten mehr als 50 Prozent der Empfehlungen evidenzbasiert sein müssen. Die neue Leitlinie löst die 1999 erstmals erstellte und 2013 aktualisierte S1-Leitlinie ab. Sie soll aktuelle Behandlungsstandards bündeln – basierend auf Evidenz und breitestmöglichem Konsens.

Ein weiteres Ziel der Autoren der Leitlinie bestand darin, nicht allein die weiterhin unsichere wissenschaftli­che Evidenzlage und die Empfehlungen bereits bestehender internationaler Leitlinien zu bündeln – die bisher aktuellste Leitlinie stammte von WPATH aus 2022 (Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2012: DOI: 10.1016/j.jaac.2012.07.004; International Journal of Transgenderism 2012; DOI: 10.1080/15532739.2011.700873; The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 2017; DOI: 10.1210/jc.2017-01658, International Journal of Transgender Health 2022; DOI: 10.1080/26895269.2022.2100644).

Darüber hinaus sollten Fragestellungen identifiziert werden, die für die Diagnose und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie relevant sind, aber noch nicht in publizierten Leitlinien behandelt wurden.

gie

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