Politik

Arzneimittel­engpässe: Sachverständige zerpflücken Gesetzentwurf

  • Dienstag, 13. Juni 2023
/picture alliance, Bildagentur-online, Ohde
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Berlin – Das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings für seinen angedachten Zweck nicht ausreichend: Diese Auffassung äußerten die geladenen Sachverständigen gestern bei der Anhörung zum Gesetzentwurf im Bundesgesundheitsausschuss.

Globale Lieferketten sind zusehend fragil und auf dem heimischen Markt treffen steigende Herstellungs­kosten auf fixierte Preise: „Das führt dann dazu, dass wie im Fall Tamoxifen Unternehmen vor der Wahl stehen, die Produktion einzustellen oder rote Zahlen zu schreiben“, erklärte Bork Bretthauer, Geschäftsführer des Branchenverband Pro Generika, gestern im Bundestag.

Die Bundesregierung will dem mit einem Maßnahmenpaket begegnen, das unter anderem die Lockerung verschiedener Preisregelungen bei unterschiedlichen Arzneimittelarten sowie neue Vorgaben zur Bevorratung beinhaltet.

So sollen pharmazeutische Unternehmer zu einer dreimonatigen Lagerhaltung von rabattierten Arzneimitteln verpflichtet werden. „Die Verpflichtung, Medikamente in dieser Situation zu bevorraten, ist im Prinzip richtig“, erklärte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Burkhard Rodeck. Allerdings sei sie nicht nur schwer zu kalkulieren, sondern ohne vermehrte Produktion auch nicht umsetzbar.

Vor allem aber sei die Maßnahme im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin nutzlos, da Kinderarzneimittel von den Rabattverträgen ausgenommen sind. „Das heißt, wir haben hier eine widersprüchliche Situation. Das muss aufgelöst werden“, forderte Rodeck.

Aus unternehmerischer Sicht seien die Bevorratungsregelungen ebenfalls problematisch, kritisierte Bretthauer. Die dadurch entstehenden Kosten „muss man bei solchen Erstattungsbeträgen erst einmal stemmen“, erklärte er. Auch der Großhandelsverband PHAGRO, vertreten durch Geschäftsführer Thomas Porstner, warnte vor den entstehenden Kosten.

Bereits jetzt seien stets Arzneimittel im Wert von zwei Milliarden Euro eingelagert. Der pharmazeutische Großhandel wäre Porster zufolge überfordert, wenn erhöhten Bevorratungsvorgaben keine entsprechende Erhöhung des Großhandelshonorars gegenübergestellt würde.

Die Vertreter der Pharmaverbände waren sich einig, dass die geplante Anhebung der Preise einzelner Arzneimittelgruppen bei Weitem nicht ausreichen werde, um die Verfügbarkeit spürbar zu verbessern. Nur rund 1 Prozent der hiesigen Arzneimittel sei von den Regelungen überhaupt betroffen, erklärte Bretthauer: „Wir sind sehr pessimistisch, dass Unternehmen aufgrund des ALBVVG Produktion nach Europa zurückverlagern würden.“

Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), berief sich auf die Begründung der Bundesregierung für die Schwierigkeiten bei Kinderarzneimitteln: Es liege demnach auch daran, dass diese oftmals in aufwendig zu produzierenden Darreichungsformen wie Säften oder Sirups angewendet werden, die noch dazu weniger wirtschaftlich seien, weil sie nur in geringerer Stückzahl benötigt werden.

„Es wäre deshalb konsequent, nicht nur Kinderarzneimittel von den Festbeträgen auszunehmen, sondern grundsätzlich alle Arzneimittel mit flüssig-oralen Darreichungsformen, oder sie zumindest separaten Festbetragsgruppen zu unterwerfen“, sagte Kortland.

Nicht weit genug geht aus Sicht des unparteiischen Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) auch eine geplante Klarstellung, die sich auf das Verfahren der Zusatznutzenbewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) bezieht.

Die sind nötig geworden, weil das Bundessozialgericht (BSG) im sogenannten Solisten-Urteil vom Februar 2023 entschieden hatte, dass der Off-Label Use von Arzneimitteln keine zweckmäßige Vergleichstherapie gegenüber einem zulassungsrechtlichen Solisten – also dem in der jeweiligen Indikation einzigen zugelassenen Arzneimittel – sein könne.

„Das Solisten-Urteil des Bundessozialgerichts hat verheerende Folgen für das weltweit anerkannte AMNOG-System“, erklärte Hecken gestern. Insbesondere in fortgeschrittenen onkologischen Therapien und bei seltenen Erkrankungen sei es weit verbreitet, mit Arzneimitteln im Off-Label Use zu arbeiten.

Dürften die bei der Bewertung neuer Arzneimittel nicht mehr als Zweckmäßige Vergleichstherapie (ZVT) herangezogen werden, „kann das Verfahren der Frühen Nutzenbewertung seinen originären Zweck, eine wissenschaftliche Begutachtung des Zusatznutzens eines neuen Wirkstoffs gegenüber dem Goldstandard, der im Augenblick in einer Therapie herrscht, nicht mal mehr im Ansatz erfüllen“, mahnte Hecken.

Nach dem Solisten-Urteil sei der G-BA gezwungen, teilweise nicht-medikamentöse Therapien oder alte zugelassene Arzneimittelwirkstoffe, die niemand mehr verordnet und die beim Einsatz sogar Patientinnen und Patienten gefährden könnten, als Zweckmäßige Vergleichstherapien festzulegen.

„Das heißt, der Versorgungsstandard wird in keinster Weise mehr abgebildet“, erklärte er. Die mit dem Gesetzentwurf vorgesehene Änderung, dass Therapien nach Maßgabe der Ärztin oder des Arztes, Best Supportive Care (BSC) oder nicht-medikamentöse Therapien als ZVT festgesetzt werden können, zwar ein erster wichtiger Schritt.

Der G-BA brauche allerdings eine zweite gesetzgeberische Regelung, die es ihm ermöglicht, auch Off-Label Use als ZVT zugrunde zu legen. Nur so könne ein fairer Vergleich des bisherigen Goldstandards mit der neuen Therapiemöglichkeit gewährleistet werden. Das müsse möglichst bald geschehen. „Wir sind nach diesem Urteil nicht mehr weit davon entfernt, wieder Blutegel und Aderlass als Zweckmäßige Vergleichstherapie definieren müssen“, warnte Hecken.

lau

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