Arzneimittelengpässe: EU-Initiativen nehmen Fahrt auf

Berlin – Auf Ebene der Europäischen Union (EU) kommt Schwung in das Thema Arzneimittellieferengpässe. Nachdem die EU-Kommission kürzlich einen Vorschlag zur Reform des Arzneimittelrechtsrahmens vorgelegt hat, setzen sich nun sowohl das Parlament als auch der Ministerrat mit dem Thema auseinander.
„Die Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft ist gegenwärtig nur eingeschränkt gewährleistet“, warnt die Deutsche Industrie- und Handelskammer. Das gilt für die gesamte EU, die bei kritischen Rohstoffen abhängig ist von allerlei Partnern auf der Welt, deren Verlässlichkeit im Krisenfall angezweifelt wird.
Deshalb hat die EU-Kommission im März mit dem „Critical Raw Materials Act“ Vorschläge präsentiert, die diese Abhängigkeit durch Monitoring und Anbieterdiversifizierung verringern sollen. Gleiches fordert die belgische Regierung nun für Arzneimittel.
Es brauche parallel zum „Critical Raw Materials Act“ einen „Critical Medicines Act“, heißt es in einem Papier, dass Belgien federführend für eine Gruppe von 19 EU-Staaten verfasst und jüngst dem Rat der Europäischen Union vorgelegt hat.
„Das Gesetz sollte als Werkzeugkasten mit verschiedenen Instrumenten gesehen und als komplementär zur Überarbeitung des Europäischen Arzneimittelrechtsrahmens aufgefasst werden“, heißt es in dem Papier.
Neben einer Diversifizierung der Anbieter brauche es ein europäisches Monitoring, um entstehende Lieferengpässe besser zu antizipieren, sowie einen „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ zur gegenseitigen Unterstützung der Mitgliedstaaten im Falle regionaler Engpässe. Auch müsse die hiesige Arzneimittelproduktion unterstütz werden. Bei alldem dürfe auch ein möglicher Finanzrahmen für solche Maßnahmen nicht vergessen werden.
Für den CDU-Politiker und EU-Parlamentsabgeordneten Peter Liese tragen die Belgier damit Eulen nach Athen: Er hat nach eigenen Angaben bereits Ende 2019 vom zuständigen EU-Parlamentsausschuss für Umwelt und Gesundheit verlangt, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und systematisch an einer Lösung zu arbeiten.
„Ich war ziemlich schockiert, als meine Kolleginnen und Kollegen damals sagten, wir hätten für so etwas keine Zeit, weil wir uns um den Green Deal kümmern müssen“, erklärte er gestern bei einer Videokonferenz zum Thema. „Ich unterstütze den Green Deal, insbesondere die Klimaschutzmaßnahmen, aber es kann nicht sein, dass wir dadurch die gesundheitliche Versorgung als weniger wichtig ansehen.“
Auch das Europäische Parlament habe nun nach Verzögerungen Vorschläge aufgegriffen, die er im Namen seiner Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP), eingereicht habe, erklärte Liese. Die gingen über das hinaus, was bisher aus Kommission und Ministerrat zu vernehmen ist.
„Alles, was da drinsteht, ist richtig. Aber es kommt viel zu spät“, sagte gestern Liese mit Blick auf das Papier aus belgischer Feder. Ihm würde in beiden Papieren ein zentraler Punkt zu kurz kommen, nämlich der enorme Preisdruck auf die Generikaindustrie.
Es sei „die Billigmentalität in vielen Mitgliedstaaten“, die zur Abwanderung der Wirkstoffproduktion aus Europa geführt habe, kritisierte er. Und das sei kein rein makroökonomisches Problem, sondern in der Versorgungsrealität klar zu spüren.
„Ich habe selbst als Arzt in einer Landarztpraxis erlebt, dass man wegen zwei oder drei Cent Preisunterschied telefonieren musste, um die Erlaubnis zu bekommen, ein Antibiotikum zu verschreiben“, erzählte er. Insbesondere das Rabattvertragssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung, das sich nur auf den Preis beziehe, treffe eine wesentliche Schuld an der Misere.
Bisher werde bei den Ausschreibungen auf jeden Cent hinter dem Komma geachtet, nicht jedoch auf Qualität und Zuverlässigkeit der Hersteller. „Da ging es immer nur um Preise, und das hat zu dramatischen Situationen geführt“, kritisierte er. „Diese Billigmentalität hat dazu geführt, dass die Produktion ausgelagert wurde nach China und Indien.“
Deshalb brauche es in möglichst allen europäischen Mitgliedsstaaten Ausschreibungen, in denen nicht nur der Preis, sondern auch die Zuverlässigkeit der Lieferung ein Kriterium ist. Außerdem solle es zur Auflage gemacht werden, dass zumindest ein Teil der Produktion in der Europäischen Union oder in Nachbarländern stattfindet, die zuverlässig liefern können.
„Wir prüfen gerade, ob dies rechtlich möglich ist“, erklärte Liese. Auf politischer Ebene könne das aber Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) jederzeit mit seinen Partnern aus den anderen Ländern vereinbaren. „Rein nationale Lösungen werden nicht dazu führen, dass wieder mehr in Europa produziert wird.“ Kein Unternehmen werde in Deutschland eine Fabrik errichten, nur weil in Deutschland Ausschreibungskriterien geändert werden.
Allzu hoffnungsvoll, dass Lauterbach das Thema europäisch angeht, zeigte er sich jedoch nicht. „Obwohl ich keiner Regierungspartei angehöre, finde ich, dass Herr Lauterbach einige gute Schritte geplant hat“, räumte er zwar ein.
Allerdings habe Lauterbach in seiner bisherigen Amtszeit gezeigt, dass solche Formen der Kooperation von ihm nicht zu erwarten seien. „Cem Özdemir und andere, die ich vielleicht parteipolitisch nicht unbedingt mag, tauschen sich mit Europaabgeordneten aus“, sagte er. Von Lauterbach könne man das nicht behaupten. „Er ist jemand, der sich schon in Deutschland nicht abstimmt, wie wir leidvoll erfahren mussten. In Europa ist er völlig unmusikalisch.“
Es brauche deshalb so schnell wie möglich eine Initiative der Mitgliedsstaaten in der EU für eine Reform der Erstattungspreise. Die müsse nicht nur unabhängig von Lauterbach sein, sondern auch vom Gesetzgebungsprozess der Kommission, der erfahrungsgemäß noch einiges an Zeit in Anspruch nehmen werde.
Es gibt jedoch auch Zweifel daran, dass das Drehen an der Preisschraube ausreicht. Denn der Pharmaindustrie geht es nicht schlecht: Umgekehrt proportional zum Preisverfall bei generischen Arzneimitteln sind die Kosten für patentgeschützte Therapien in die Höhe geschossen.
„Wir kennen bei Einzeltherapien oft keine Grenze in der Höhe, aber versagen in der Masse“, kritisierte Frank-Ulrich Montgomery, Ehrenpräsident der Bundesärztekammer (BÄK) und ehemaliger Präsident des Weltärztebundes, gegenüber Liese. „Es kann nicht nur um hochpreisige, innovative Medikamente gehen, die Grundversorgung mit generischen Arzneimitteln muss sichergestellt werden.“
Wenn es Medikamente gibt, bei denen eine einzelne Tagesdosis hunderttausende Euro kostet und gleichzeitig die Grundversorgung nicht mehr gewährleistet ist, „dann stimmt irgendwas in der Verteilungsgerechtigkeit nicht und das muss man thematisieren“, stimmte ihm der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des St. Vincenz-Krankenhauses Paderborn, Friedrich Ebinger, zu.
Montgomery beklagte, oft würden Unternehmen Präparate vom Markt nehmen, weil an ihnen nicht mehr genug verdient werden kann – und zwar unabhängig davon, wie relevant sie für die Versorgung sind. „Wir müssen auch mal an die Verantwortung der Pharmaindustrie herangehen“, forderte er.
Arzneimittel seien kein normales Handelsgut wie jedes andere, es müsse auch über Themen wie eine Sicherstellungsverpflichtung nachgedacht werden: „Da muss die Pharmaindustrie nicht nur auf den Gewinn schauen, sondern im Zweifel auch mal etwas zum Selbstkostenpreis anbieten, um die Versorgung zu sichern.“
Das heiße nicht, dass er sich gegen höhere Preise für Generika ausspreche. „Der vertretbare Preis muss dann auch die Sicherheit wert sein.“ Auch sei es nicht zwangsläufig, nur europäische Standorte mit ihren hohen Lohnkosten als Zuschlagskriterium bei Rabattverträgen auszuschreiben. Auch Länder außerhalb der EU seien denkbar, solange sie die notwendige Qualität und Zuverlässigkeit bieten. „Gefährlich wird es immer dann, wenn es nur eine Fabrik auf der ganzen Welt gibt“, betonte er.
Die Industrie selbst zeigte sich von Montgomerys Vorschlägen weniger begeistert. Richard Ammer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) und geschäftsführender Inhaber von Medice Arzneimittel, appellierte umgekehrt an die Verantwortung der Selbstverwaltung.
So gebe es Reformbedarf bei der Substitutionsausschlussliste des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Mit der auch als „Aut-idem-Liste“ genannten Aufzählung legt der G-BA fest, für welche Wirkstoffe in der jeweiligen Darreichungsform ein generelles Austauschverbot gilt.
Oftmals würden Präparate schon bei einer Äquivalenz von 80 oder 90 Prozent zu anderen Medikamenten von ihr gestrichen und so zu Generika erklärt. Das sei nicht nur unter medizinischen Gesichtspunkten fragwürdig, sondern nehme auch Herstellern den unternehmerischen Anreiz zur Produktion.
Außerdem sei es bei der Preisstruktur im Generikamarkt keine Frage des Wollens oder des reinen Profits, wie viele Anbieter für das jeweilige Präparat es noch gibt. Bei den jetzigen Ausschreibungskriterien, die sich nur auf Kostenminimierung beziehen, sei es für weitere Hersteller schlicht nicht möglich, neu in den Markt einzusteigen.
Außerdem werde Innovation in der Grundversorgung kontinuierlich behindert: Das starre System der Festbeträge – also der Höchstpreise, die die Krankenkassen erstatten – mache es unrentabel, beispielsweise Darreichungsformen weiterzuentwickeln oder galenische Verbesserungen vorzunehmen. Der Preis sei schließlich ohnehin gedeckelt.
Wobei Ammer hingegen zustimmte: Es brauche europäische Lösungen. „Der Preis muss auch als Motor der Allokation gesehen werden“, betonte er. Ein verschärfender Faktor für Engpässe seien nämlich Arbitragegeschäfte, also die Ausnutzung von Preisunterschieden. „Wir erleben es ständig, dass gute Ware von findigen Großhändlern ins Ausland verkauft wird“, betonte er.
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