Arzneimitteltherapiesicherheit: Es gibt zu wenig Risikobewusstsein

Berlin – Die Arzneimitteltherapiesicherheit spielt bei der Behandlung insbesondere von multimorbiden Patientinnen und Patienten noch immer eine untergeordnete Rolle. Das kritisierten Experten heute in Berlin bei der 2. IGiB-Konferenz, Innovative Gesundheitsversorgung in Brandenburg. Medikationsfehler, die nicht nur von Ärztinnen und Ärzten, sondern von allen am Medikationsprozess beteiligten begangen würden, seien bis 2005 ein Tabuthema gewesen, sagte Kai Daniel Grandt, Mitglied des Vorstands der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.
Seither habe es zwar vier Aktionspläne des Bundesgesundheitsministeriums gegeben, deren sichtbarstes Ergebnis der mit dem E-Health-Gesetz 2016 eingeführte Medikationsplan sei. Alle Patienten, die mindestens drei verordnete Medikamente gleichzeitig einnehmen, haben seither Anspruch auf einen solchen Plan, der sämtliche Medikamente listet, von denen der behandelnde Arzt Kenntnis hat und der zunächst noch auf Papier erstellt wird. Dennoch sieht die Behandlungsrealität Grandt zufolge so aus, dass nach wie vor 34,5 Prozent aller Patienten, die im Krankenhaus aufgenommen werden, unter unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) leiden, von denen 71 Prozent vermeidbar wären.
Häufige Risiken der Verordnung seien etwa eine zu hohe Dosierung oder Kontraindikationen. Vielfach würden auch Medikamente verordnet, die nicht erforderlich seien. „Arzneimitteltherapiesicherheit hat keine Priorität“, folgerte Grandt. Die Risiken der Arzneimittelgabe würden im Alltag nicht ausreichend analysiert. Auch die Uninformiertheit vieler Patienten trage zu den Risiken bei.
Es gibt keine systematische Arzneimittelanalyse
So könnten Umfragen zufolge 80 Prozent der Patienten keine genauen Angaben zu ihrer Medikation machen. Dazu komme, dass bei Behandlungsbeginn meist keine systematische Arzneimittelanalyse vorgenommen werde. Um die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern, müssten sich Risikowahrnehmung und –einstellung bei Heilberufen und Patienten verbessern, so Grandt.
Außerdem müsse die Medikamenten-Dokumentation nach einheitlichen Standards erfolgen, sodass die am Verordnungsprozess beteiligten Fachleute genau über das verordnete Arzneimittel, den Wirkstoff, die Dosierung und relevante Laborwerte informiert würden. „Die Arzneimitteltherapiesicherheit muss als Aufgabe der Heilberufe im SGB V verankert und von den gesetzlichen Krankenkassen gefördert werden“, forderte Grandt.
Ärzte benötige Feedback über ihre Verordnungen
Als ersten Schritt auf dem Weg zu mehr Therapiesicherheit bezeichnete auch Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), den Medikationsplan. Mit dessen Hilfe ließen sich zwar Wechselwirkungen erkennen, jedoch nur auf die Praxis bezogen, die den Plan erstelle. Eine Koordination von Verordnungen unterschiedlicher Ärzte sei damit noch nicht gewährleistet.
Damit Ärzte ihr eigenes Verordnungsverhalten überprüfen und gegebenenfalls ändern können, schlug von Stillfried ein individuelles Feedback durch die Kassenärztlichen Vereinigungen vor, die zeitnah über die Verordnungsdaten verfügten – vorausgesetzt, der Patient willige in die Weitergabe seiner Daten ein. Ein entsprechender Vorschlag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz sei von der Politik bedauerlicherweise nicht aufgegriffen worden, kritisierte der Zi-Geschäftsführer.
Wie wichtig es für die Arzneimitteltherapiesicherheit ist, den Patienten und sein Umfeld in die Therapieentscheidungen einzubeziehen, hob Attila Altiner, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Rostock, hervor. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie (POLiTE-RCT) an seinem Institut haben Apotheker Patienten noch im Krankenhaus zu ihrer Medikation befragt.
Die Patienten oder deren Angehörige wurden gebeten, sämtliche Medikamente mitzubringen, die der Patient einnimmt. Anhand dessen wurde jedoch nicht nur die Verträglichkeit analysiert. Mit dem Patienten wurde auch das Ziel der Medikamenteneinnahme besprochen. Denn Leitliniengerechtigkeit und Patientenziel klafften oftmals auseinander, sagte Altiner, der auch als Hausarzt tätig ist.
Er betonte deshalb, dass auch die Hausärzte der Patienten in diesen Prozess eingebunden seien. Erste Ergebnisse der intensiven pharmazeutischen Betreuung ließen darauf schließen, dass sich die Zahl der verordneten Wirkstoffe verringert habe, erklärte Altiner: „Die Arzneimitteltherapiesicherheit ist aber ein junges Konzept. Es braucht Zeit, die Verordnungskultur zu verändern.“ Gelingen könne das allerdings nur interdisziplinär und unter Einbindung der Patienten und ihrer Angehörigen. „Außerdem müssen wir die Sensibilität für dieses Thema auch in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung vermitteln“, forderte Altiner.
Verständliche Patienteninformationen zum Download
Die besondere Rolle des Patienten im Medikationsprozess betonte auch Ronja Woltersdorf, Apothekerin des Pharmazeutischen Instituts der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Insbesondere im ambulanten Bereich seine die Patienten bei der Arzneimitteltherapie auf sich allein gestellt. Informationen über Wirkungen und Nebenwirkungen sowie die richtige Anwendung eines Medikaments seien deshalb von besonderer Bedeutung. Ein Blick in Internetforen könne hier ebenso ernüchternd wie aufschlussreich sein, weil er Missverständnisse, aber auch Ängste von Patienten offenbare.
„Die Informationen für Patienten müssen verständlich sein“, forderte die Apothekerin, die zugleich im Aktionsbündnis Patientensicherheit die Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapiesicherheit leitet.
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