Gesundheitskompetenz: Deutschland hinkt hinterher
Berlin – Über die Hälfte der Deutschen weisen eine unzureichende Gesundheitskompetenz auf. Das zeigt die vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) beauftragte Studie German Health Literacy Survey (HLS-GER) der Uni Bielefeld, die diese Woche zusammen mit einer in Anlehnung an die Studienergebnisse entwickelten Material- und Methodensammlung auf dem Symposium zur Gesundheitskompetenz in Deutschland vorgestellt wurde.
Patienten können sich heute dank des technologischen Wandels auf so vielfältige Weise informieren wie nie zuvor. Doch die Informationsflut, die den Gesundheitssektor mit zahlreichen Angeboten überschwemmt, stellt keinen Garanten für eine hohe Gesundheitskompetenz dar. So lautet ein Fazit der dreijährigen Studie des Autorenteams um Doris Schaeffer. Von den 2.000 Befragten verfügten 54,3 Prozent über eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz, sind also nicht ausreichend in der Lage, sich gesundheitsrelevante Informationen eigenständig zu beschaffen, diese zu bewerten und zu nutzen.
Die Wissenschaftler fanden in den Ergebnissen einen sozialen Gradienten, der das Maß der Gesundheitskompetenz mitbestimmt. Ein geringeres Kompetenzniveau wiesen laut Studie vor allem Menschen mit niedrigem sozialen Status, Menschen mit einem niedrigen Bildungsstand, Ältere und chronisch Kranke sowie Menschen mit Migrationshintergrund auf. Gerade diese vulnerablen Gruppen bedürften einer gezielten Förderung, betonte Schaeffer: „Wir brauchen nicht unbedingt mehr Informationen, sondern solche, die leicht verständlich, verbraucherfreundlich gestaltet, qualitätsgesichert und verlässlich sind. Die Angebote sollten sich an dem orientieren, was die Patienten und Nutzer wissen wollen und nicht, was wir Experten für wichtig erachten.“
Wissen sei heute kein Herrschaftsprivileg mehr, sondern hätte einen Demokratisierungsprozess durchlaufen, der von der Digitalisierung weiter befördert wird, so Schaeffer. Wichtiges Ziel müsse es daher sein, den Wandel der Patientenrolle zu unterstützen und den Nutzern zuverlässige und passgenaue Informationen zur Verfügung zu stellen.
Hausärzte als wichtige Anlaufstelle
Ein weiteres Ergebnis des HLS-GER ist, dass Hausärzte nach wie vor als wichtigste Anlaufstelle in Sachen Gesundheitsinformationen fungieren. Eine Forderung ist daher, dass auch unter den Gesundheitsberufen die Gesundheitskompetenz gefördert werden müsse. Ärzte und Pflegende müssten in der Lage sein, Gesundheitsinformationen besser zu vermitteln und Nutzer darin zu unterstützen, mit ihnen umzugehen. Denn die Studie zeigte auch, dass es Patienten leichter fällt, Gesundheitsempfehlungen umzusetzen als selber verlässliche Informationen zu finden und diese zu bewerten.
Zu den Gesundheitsexperten, die sich im Anschluss an die Vorstellung der Studie zu einer Podiumsdiskussion trafen, gehörten neben Schaeffer und ihrem Kollegen Sebastian Schmidt-Kaehler sowie Staatssekretär Gerd Billen auch Staatsekretär Lutz Stroppe, der Patientenbeauftragte Karl-Josef Lautermann, MdB Helga Kühn-Mengel, der österreichische Soziologe Jürgen Pelikan, der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Martin Litsch und Bernhard Gibis von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Kommunikative und didaktische Kompetenzen der Ärzte stärken
Die besondere Rolle des Hausarztes sah Lautermann als Chance, den sozialen Gradienten zu überwinden und jenen Teil der Bevölkerung zu erreichen, der nicht durch die bisherigen Gesundheitsangebote angesprochen wird. Menschen mit akademischem Bildungsgrad seien es gewohnt, sich Informationen selber zu beschaffen. Ein großer Teil aber sei „anders“ gebildet und lerne über das Gespräch. Genau hier seien die Haus- und Fachärzte gefragt. Mit entsprechenden kommunikativen und didaktischen Kompetenzen könnten sie Patienten den Zugang zu Informationen erleichtern. Auch Stroppe hob hervor, dass Ärzte heute nicht auf die psychosoziale Betreuung von Patienten und teilweise eines ganzen Umfeldes vorbereitet würden.
Niederlande als Vorbild
Die Weiterentwicklung von Curricula sei daher einer der wichtigsten Hebel, um das Informationsangebot zu verbessern. Doch auch der eigeninitiierte Zugang zu Gesundheitsinformationen müsse gestützt werden. Darum plane das BMG ein Gesundheitsportal, auf dem unabhängige, evidenzbasierte Informationen gesammelt und Nutzern zugänglich gemacht werden. Eine Allianz für Gesundheitskompetenz sei ein weiterer Schritt, um in diesem Bereich zu Ländern wie beispielsweise den Niederlanden aufzuschließen.
Die Digitalisierung sahen alle Beteiligten als Herausforderung. So müssten die Möglichkeiten neuer Technologien zwar effektiv genutzt und im gleichen Zuge qualitativ gesichert werden. Andererseits dürfe das Internet nicht die einzige Quelle sein, über die Gesundheitsinformationen zur Verfügung gestellt werden. Gerade für ältere Menschen und solche, die sich nicht über digitale Kanäle informieren, müsste man andere Möglichkeiten finden.
Mit der vorgestellten Material- und Methodensammlung „Gesundheitskompetenz – Verständlich informieren und beraten“ wollen BMJV und die Bielefelder Autoren erste Anregungen geben, um passende Methoden für die Beratung und Information von Menschen mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz zu finden. Im Hinblick auf die Aufstellung von Praxen sieht Pelikan zudem interprofessionelle Teams als Notwendigkeit, künftigen Herausforderungen in der Vermittlung von gesundheitsrelevantem Wissen zu begegnen.
Die edukativen Anforderungen an die Medizin müssten nicht immer vom Arzt erbracht, sondern könnten auch im Sinne einer Delegation oder Substitution ärztlicher Leistungen erfüllt werden. Zudem appellierte er daran, eine „zuhörende Medizin“ zu etablieren und Patienten darin zu bestärken, sich aktiv bei ihrem Arzt nach Diagnose, Behandlungsschritten und dem „Warum“ der Behandlung zu erkundigen. Aus Kühn-Mengels Sicht lohne sich ein verändertes Verständnis vom Patienten als selbstbestimmtem Partner auch aus wirtschaftlicher Sicht: „Gut informierte Patienten bewegen sich nicht nur selbstbewusster, sondern auch ökonomischer im System.“
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