Kassenkritik an ambulanter Versorgung stößt auf Proteste

Berlin – „Wer immer noch versucht, mit der absoluten Zahl an Ärztinnen und Ärzten den Versorgungsmangel in Klinik und Praxis wegzureden, der hat die Zeichen der Zeit einfach nicht erkannt. Mittlerweile müsste auch dem letzten Kassenfunktionär klargeworden sein, dass die tatsächlich zur Verfügung stehenden Arztstunden im Verhältnis zum gestiegenen Behandlungsbedarf entscheidend sind.“ Mit diesen Worten hat heute der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, auf Kritik des Spitzenverbands der Krankenkassen an den Strukturen in der ambulanten Versorgung reagiert.
Die Kassen hatten moniert, trotz stetig steigender Haus- und Facharztzahlen sowie einem Einkommen auf Rekordniveau könnten die Versorgungsprobleme nicht gelöst werden. „Wir haben immer mehr Ärzte, die immer mehr Geld verdienen, und trotzdem gibt es für die Patienten teilweise lange Wartezeiten und in wenigen Regionen im hausärztlichen Bereich erstmals Versorgungslücken“, hatte Johann-Magnus von Stackelberg kritisiert, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands.
Er forderte die Ärzteschaft auf, mehr Kooperationen und mehr Anstellungsmöglichkeiten anzubieten, damit jungen Ärzten der Weg in die Praxis und aufs Land erleichtert werde. „Die Zunahme multimorbider Patienten und die steigende Komplexität der medizinischen Versorgung erfordern auch im vertragsärztlichen Bereich multidisziplinäre Teamstrukturen. Hier müssen die Ärzteorganisationen aktiv werden“, forderte von Stackelberg.
KBV: KVen bieten Umsatzgarantien und erleichtern Anstellung
„Die Aussagen der Kassenfunktionäre sind falsch“, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Köhler. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) leisteten bereits sehr viel: „Sie bieten Umsatzgarantien, Investitionshilfen, erleichtern die Anstellung von Ärzten und unterstützen Stipendien für Medizinstudenten.“ Dagegen habe der GKV-Spitzenverband nur Plattitüden und überwiegend falsche Behauptungen zu bieten.
Von Stackelberg hatte unter anderem darauf verwiesen, dass zwar die Zahl der hausärztlichen Praxisinhaber von 59.600 im Jahr 2000 auf knapp 56.000 im Jahr 2012 gesunken sei. Durch die Zunahme an angestellten Hausärzten sei die Gesamtzahl jedoch bis 2012 gestiegen, und zwar auf etwa 60.400. Der Vorstand des GKV-Spitzenverbands räumte jedoch ein, dass er nicht sagen könne, wie viele davon voll arbeiteten und wie viele in Teilzeit: „Wir zählen Köpfe.“
Seine Präsentation verband er mit der Forderung, Filialpraxen und mobile Praxisangebote zu fördern, befristete Zulassungen vorzusehen, mehr KV-Praxen einzurichten und nicht-ärztliche Fachkräfte stärker in die Versorgung mit einzubeziehen. Insgesamt, betonte er, seien die Vorschläge nicht gegen die KBV gerichtet: „Hier wird es gemeinsame Anstrengungen brauchen.“
Forderung nach feinerer Bedarfsplanung, zum Beispiel für Augenärzte
Von Stackelberg ging zudem auf die neue Bedarfsplanung ein sowie auf Berechnungen, die die KBV der Bild-Zeitung zur Verfügung gestellt hatte. Demnach sind derzeit 2.600 Hausarztsitze sowie 2.000 Facharztsitze nicht besetzt. Der GKV-Spitzenverband rechnet anders: Weil er die Grenze für eine Normalversorgung nicht bei 110 Prozent, sondern bei 100 Prozent zieht, sind nach seinen Berechnungen allenfalls 1.000 Hausarztsitze nicht besetzt.
Nicht angesprochen wurde, dass auch die neue Bedarfsplanung auf den Grundlagen der alten aufbaut und umstritten ist. Von Stackelberg regte allerdings an, im Gemeinsamen Bundesausschuss über weitere Verbesserungen zu diskutieren. So sollte man seiner Meinung nach beispielsweise bei der Bedarfsplanung von Augenärzten stärker zwischen operierenden und konventionellen Augenärzten unterscheiden.
Kritik äußerte der GKV-Spitzenverband auch an den Honorarsteigerungen der letzten Jahre sowie an der Morbiditätsmessung. Es gebe klare Hinweise dafür, dass die Qualität der dokumentierten Diagnosen nicht ausreichend sei, hieß es. Sie seien jedoch eine wichtige Basis für Honorarsteigerungen.
Als Beispiel führte Manfred Partsch, Leiter der Abteilung ambulante Versorgung, Angaben zur Anzahl der Diabetiker an. Nach den kodierten Diagnosen der niedergelassenen Ärzte sei die Zahl der Diabetiker jährlich um acht Prozent gestiegen, nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) nur um knapp zwei Prozent. Die verwendeten Angaben des RKI beziehen sich allerdings auf einen anderen Zeitraum als die verwendeten Angaben der Ärzte. Partsch räumte aber ein, dass es nicht nur Über-, sondern auch Unterkodierungen gebe. „Wir unterstellen den Ärzten keinen Betrug“, ergänzte er. Die derzeitigen Verfahren führten aber nicht zu plausiblen Ergebnissen.
Kassen wollen Zeitprofile im EBM neu kalkuliert haben
Kritische Anmerkungen machte Partsch auch zur Höhe der Praxisgewinne und zur Ungleichverteilung der Arzteinkommen zwischen den Fachgruppen. In Zukunft wollen die Krankenkassen darauf drängen, dass die Zeitprofile, die vielen Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) zugrunde liegen, neu kalkuliert werden. Sie seien zu hoch. Der GKV-Spitzenverband monierte weiterhin, dass „die kalkulierte Vergütung auch dann noch in voller Höhe bezahlt wird, wenn die fixen Praxiskosten bereits gedeckt sind“. Davon profitierten besonders technikorientierte Arztgruppen, hieß es. Kein Thema war in diesem Zusammenhang, dass das Gesamthonorar für zahlreiche Leistungen budgetiert ist.
NAV spricht von „Rolle rückwärts“ bei Vergütung
„Der von den Krankenkassen geäußerte Generalverdacht, Ärzte würden zur Steigerung ihres Honorars absichtlich falsche Diagnosen stellen, ist unerhört und wird von den niedergelassenen Ärzten entschieden zurückgewiesen“, erklärte Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes. Die Patienten würden älter und daher auch kränker. Wer das bezweifle, ignoriere die Realität. „Die geforderte Rolle rückwärts bei der Berechnung der Vergütung – weg von der Morbiditätsorientierung – spricht Bände: Den Kassen geht es allein um die Einsparung der Kosten“, kritisierte Heinrich.
Auf das Engagement der KVen gegen den Ärztemangel im ländlichen Raum verwies die KV Schleswig-Holstein. Man habe mehrere Maßnahmen ergriffen, um entgegenzuwirken, hieß es in einer Stellungnahme. „Diese reichen von der Nachwuchskampage ,Land.Arzt.Leben!‘, mit der wir junge Ärztinnen und Ärzte für die ambulante Versorgung gewinnen wollen, über finanzielle Förderungen von Medizinstudenten und Ärzten in Weiterbildung bis hin zu unserem Zweigpraxismodell.“
Die Kassen säßen auf Milliardenüberschüssen, so die KV weiter. „Statt Geld zu bunkern, sollten die Kassen lieber dafür sorgen, dass die ambulante medizinische Versorgung ausreichend finanziert ist.“
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