Medizin

Kinder und Jugendliche können Long COVID entwickeln

  • Freitag, 11. November 2022
/JenkoAtaman, stock.adobe.com
/JenkoAtaman, stock.adobe.com

Dresden – Nicht nur viele Erwachsene erholen sich nur schleppend von einer Infektion mit SARS-CoV-2. Auch bei Kindern und Jugendlichen kann es zu einem Long COVID kommen. Dies zeigt eine Auswertung von Ab­rech­nungsdaten von Krankenkassen in PLoS Med (2022; DOI: 10.1371/journal.pmed.1004122 ). Dabei stehen teilweise andere Symptome im Vordergrund als bei Erwachsenen.

Bei Kindern und Jugendlichen verläuft eine Infektion mit SARS-CoV-2 in der Regel milder als bei Erwa­chse­nen. Von 11.950 Infizierten aus dem ersten Halbjahr 2020 im Alter unter 18 Jahren, deren Daten Martin Roeßler vom Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung der Technischen Universität Dresden und Mitarbeiter ausgewertet haben, mussten nur 117 (1,0 % im Krankenhaus und 51 (0,4 %)) auf Intensivstation versorgt werden.

Unter den 145.184 Erwachsenen, die sich im gleichen Zeitraum angesteckt hatten, gab es dagegen 8.407 Kli­nikbehandlungen (5,8 %) und 3.075 Intensivfälle (2,1 %). Die Analyse umfasst die Daten von 6 Krankenkassen (AOK Bayern, AOK Plus, Barmer, BKKen, DAK und Techniker), über die 42 % der deutschen Bevölkerung kran­kenversichert sind.

Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Kinder und Jugendlichen sich auch rascher erholen und deshalb seltener an Long COVID erkranken. Dies dürfte im Allgemeinen zutreffen. Doch viele Patienten, deren Erkran­k­ung bei den Krankenkassen dokumentiert war, hatten sich auch nach 3 Monaten noch nicht vollständig erholt – unabhängig davon ob sie Kinder und Jugendliche oder Erwachsene waren.

Symptome, die 3 Monate nach der Erkrankung noch nicht abgeklungen oder neu aufgetreten sind, gelten als möglicher Hinweis auf Long COVID, wobei es mittlerweile Symptomkataloge gibt.

Die Forscher haben in einer Matched-Control-Studie jedem Infizierten jeweils 5 andere Versicherte gleichen Alters und Geschlecht sowie mit ähnlichen Vorerkrankungen gegenübergestellt. Untersucht wurde, ob die Patienten noch nach 3 Monaten häufiger wegen bestimmter Symptome beim Arzt waren als die Kontrollen.

Dies war sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen der Fall. Roeßler ermittelt für Erwachsene eine Inzidenzrate (Incidence Rate Ratio, IRR) von 1,33, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,31 bis 1,34 signifikant war. Sie litten also zu 33 % häufiger unter anhaltenden (oder neu aufgetretenen) Beschwerden. Bei den Kindern und Jugendlichen betrug die IRR 1,30 (1,25-1,35), also ein Anstieg um 30 %.

Interessanterweise litten Kinder und Jugendliche unter anderen Folgen der Erkrankung als Erwachsene. Für den Symptomkomplex Unwohlsein/Müdigkeit/Erschöpfung ermittelt Roeßler eine IRR von 2,28. Es folgten Husten (IRR 1,74), Hals-/Brustschmerzen (IRR 1,72), Anpassungsstörungen (IRR 1,71), Somatisierungs­störungen (IRR 1,62) und Kopfschmerzen (IRR 1,58). Alle Assoziationen waren statistisch signifikant.

Kopfschmerzen waren übrigens das häufigste Long COVID-Symptom bei Kindern mit einer Inzidenz (IR) von 36,67 Fällen auf 1.000 Personen-Jahre. Da Kopfschmerzen allerdings auch ohne vorherige Infektion bei Kin­dern sehr häufig sind (IR 23,24), war die IRR niedriger als bei Unwohlsein/Müdigkeit/Erschöpfung (IR 12,58), das ansonsten bei Kindern und Jugendlichen eher ungewöhnlich ist (IR 5,51).

Bei Erwachsenen standen die bereits aus früheren Untersuchungen bekannten Geruchs- und Geschmacks­störungen im Vordergrund. Sie traten mit einer IRR von 6,69 fast sieben Mal häufiger auf als in der Kontroll­gruppe. Es folgten Fieber (IRR 3,33), Dyspnoe (IRR 2,88) und Husten (IRR 2,80), vor respiratorischer Insuffi­zi­enz (IRR 2,47), Hals-/Brustschmerzen (IRR 2,20), Haarverlust (IRR 2,02) und Unwohlsein/Müdigkeit/Erschöp­fung (IR 1,97).

Nach der Dyspnoe (IR 43,91/1.000 Personenjahre) waren Unwohlsein/Müdigkeit/Erschöpfung bei Erwachse­nen das zweithäufigste Symptom (IR 42,91). Diese Symptome sind allerdings bei Erwachsenen auch ohne vorheriges COVID-19 recht häufig (IR 21,74). Das gilt auch für das dritthäufigste Symptom Kopfschmerzen (IR 40,48 versus 23,24), dass in der IRR-Rangfolge erst an 10. Stelle steht.

Als Beobachtungsstudie kann die Analyse nicht sicher belegen, dass die vermehrten Beschwerden tatsächlich auf die vorherige Erkrankung an COVID-19 zurückzuführen sind. Bei COVID-19 könnte unter anderem die Medienberichterstattung über Long COVID zu Verzerrungen geführt haben.

Patienten könnten sich aus Sorge um eine Erkrankung häufiger bereits bei leichten Symptomen in ärztliche Behandlung begeben haben, denen sie normalerweise keine Beachtung geschenkt hätten. Allerdings stand Long COVID zu Beginn der Epidemie noch nicht so sehr im Zentrum des Interesses wie in den Folgejahren.

Für eine mögliche Kausalität spricht, dass es in beiden Gruppen eine Dosis-Wirkungsbeziehung gab: Patienten, die wegen COVID-19 im Krankenhaus oder auf Intensivstation behandelt wurden, hatten später häufiger über Long COVID-Beschwerden berichtet als ambulante Patienten. Die Zusammenhänge waren jedoch bei Kindern und Jugendlichen, die nur selten im Krankenhaus behandelt werden mussten, nicht so eindeutig wie bei Erwachsenen.

Die Ergebnisse der Studie wurden von deutschen Experten positiv kommentiert. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) Martin Scherer vom Universitäts­klinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) erklärte dem Science Media Center Germany, dass die Studienergebnisse Hausärz­ten dabei helfen könnten, Beschwerden und Erkrankungshäufigkeiten in der aktuellen Situation besser ein­zuordnen.

Auch der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Peter Berlit, hält die Daten für recht verlässlich, auch wenn wie immer bei retrospektiven Analysen Vorsicht bei der Interpretation geboten sei. Es werde klar, dass Long COVID sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern ein wichtiges Thema sei, auch nach mildem Verlauf der Akutinfektion.

Für Clara Lehmann, Leiterin des Infektionsschutzzentrums an der Uniklinik Köln, ist die Studie sehr solide und sorgfältig ausgeführt, vor allem weil sie im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer Studien eine Kontrollgruppe habe, was eine Überschätzung der Prävalenz vermeide.

Die Internistin weist allerdings darauf hin, dass die Studie auf den Zeitraum zu Beginn der Epidemie beschränkt ist, als die Infektionen noch vom Wildtyp von SARS-CoV-2 ausgelöst wurden und noch kein Impfstoff zur Verfügung stand.

rme

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung