Leitlinien berücksichtigen Bedürfnisse älterer Menschen nur ungenügend

Berlin – Bisher gibt es zu wenige prospektive, randomisiert kontrollierte Studien, die mit multimorbiden, alten Menschen durchgeführt wurden. In Anbetracht des demografischen Wandels forderten Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) heute in Berlin eine intensivere altersmedizinische Forschung.
„Die meisten Medikamente, die Ärzte bei alten Patienten einsetzen, wurden in dieser Altersgruppe nie getestet“, kritisierte Cornel Sieber, Vorsitzender der DGIM. Denn Studien werden meist an Patienten mittleren Alters durchgeführt, die genau an der Krankheit leiden, gegen die sich das Mittel richtet – sie sind also auf eine Monopathologie ausgerichtet.
„Die Ergebnisse aus klinischen Studien einfach auf alte, oft chronisch kranke und multimorbide Patienten zu übertragen, ist meist nicht wissenschaftlich fundiert, möglicherweise sogar riskant“, erklärt der Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder Regensburg und Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns. Als Beispiel nennt er die Onkologie. „Wir behandeln alte Patienten mit einer Chemotherapie, ohne zu wissen, ob diese nebenwirkungsreiche Therapie vielleicht aufgrund der Multimorbidität angepasst werden müsste. Unklar ist auch, ob eine Dosisreduktion im Vergleich zu keiner Chemotherapie einen Vorteil bringt.“
Im Gegensatz zu alten Menschen müssen Arzneimittel bei Kindern in der entsprechenden Altersklasse geprüft werden, um eine Zulassung zu erhalten. Was in der Pädiatrie bereits gesetzlich vorgeschrieben ist, sollte die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) auch für alte Menschen zur Pflicht machen, fordert der Vorsitzende der DGIM.
Studienendpunkte für alte Menschen anpassen
Auch das Studiendesign müsse für die betagten Patienten angepasst werden. Denn die Behandlungsziele alter Menschen unterscheiden sich von denen jüngerer: Bei ihnen steht aufgrund der verbleibenden Lebenszeit oft nicht die Heilung, sondern Selbständigkeit und Lebensqualität trotz diverser Krankheiten im Vordergrund.
Bereits 2015 bemängelte die Leolpoldina in einer Stellungnahme die mangelnde Evidenz in der Altersversorgung. Sieber ist davon überzeugt, dass dies die Debatte vorangetrieben hat, was man auch an einzelnen Themen im Koalitionsvertrag sehen könne, beispielsweise der sektorenübergreifenden Versorgung und der Pflege.
Einige Fachgesellschaften haben zudem Sektionen eingerichtet, die sich speziell den Bedürfnissen alter Menschen widmen. Dazu zählen unter anderem die Diabetologen und Kardiologen. Zudem gibt es eine S3-Leitlinie zur Demenz. „Das wichtigste wäre aber, Studien auszuschreiben für geriatrische Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen“, sagt Sieber. Seitens der pharmazeutischen Industrie sieht der Geriater hier auch künftig kaum Potenzial. „Es wäre die Aufgabe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, diese Studien voranzutreiben.“
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