Mediziner beklagen unzureichende Ernährungsfürsorge

Berlin – Mangelernährung würde zu häufig übersehen und nicht behandelt, was die Prognose verschlechtern kann. Das kritisierten heute Fachleute mehrerer Fachrichtungen bei einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) im Rahmen der europaweiten „Malnutrition Awareness Week“. Sie fordern ein standardisiertes Risikoscreening sowie eine qualifizierte ernährungsmedizinische Betreuung.
Einige Kliniken nutzen schon jetzt das Nutritional Risk Screening (NRS 2002), um mangelernährte Patienten im Krankenhaus zu identifizieren (siehe Kasten). Anhand von vier Fragen würden so bei etwa 20 bis 25 Prozent eine potenzielle Mangelernährung festgestellt, erklärte Matthias Pirlich, Präsident der DGEM.
Auch wenn der von der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) empfohlene Fragebogen nicht viel Zeit in Anspruch nimmt, wird er vermutlich nicht flächendeckend eingesetzt.
Pirlich geht davon aus, dass nur eine von acht Kliniken ein solches Screening einsetzt. Valide Zahlen dazu liegen jedoch nicht vor.
„Von Umfragen wissen wir zudem, dass auch Ernährungsteams nicht flächendeckend existieren“, so Pirlich. Sie wären jedoch notwendig, um mangelernährte Patienten zu versorgen.
Gründe dafür sind insbesondere fehlendes Ernährungswissen in medizinischen Fachberufen sowie eine unzureichende Vergütung von ernährungsmedizinischen Maßnahmen im stationären und ambulanten Bereich.
Rainer Wirth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie stellte zudem klar: „Es ist ein Irrglaube vieler Kolleginnen und Kollegen, dass man Mangelernährung den Patienten ansieht.“ Das sei nicht der Fall. „Ein erheblicher Teil mangelernährter Patienten hat Übergewicht.“
Mangelernährung erhöht die Komplikationsrate, mindert die Lebensqualität und treibt die Behandlungskosten in die Höhe. Betroffen sind vor allem Menschen mit chronischen und schweren Erkrankungen, ältere und pflegebedürftige Patienten sowie Patienten mit gastrointestinalen Erkrankungen und Krebs.
Zahlen dazu liegen aus der Onkologie vor: Mehrere Studien konnten zeigen, dass etwa 20 % der Krebstodesfälle auf Kachexie zurückzuführen sind und nicht aufgrund ihrer Krebserkrankung (CA Cancer J Clin 2007; DOI: 10.3322/canjclin.57.4.225). Der Tod tritt typischerweise erst dann ein, wenn der Gewichtsverlust 30 % erreicht. Mit einer Ernährungstherapie könnte die Sterblichkeit mangelernährter Patientinnen und Patienten reduziert werden.
„Es ist längst Zeit, dieses Prinzip auch in deutschen Kliniken umzusetzen, das unterschätzte Problem der Mangelernährung in den Fokus zu rücken und lebenswichtige Maßnahmen zu etablieren“, sagte Nicole Erickson, Wissenschaftliche Koordinatorin des interdisziplinären Zentrums für Ernährungsmedizin sowie Koordinatorin für Gesundheitskompetenz am Krebszentrum des Klinikums der Universität München.
In der „Vienna Declaration“ haben im Juni 2023 daher mehr als 75 internationale Organisationen und wissenschaftliche Fachgesellschaften postuliert, dass eine effektive Ernährungsversorgung zum Grundrecht auf Nahrung und dem Recht auf Gesundheit gehört (Clin Nutr 2023; DOI: 10.1016/j.clnu.2023.04.009).
In einem offenen Brief hatten sich Fachgesellschaften dieses Jahr an das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gewandt, um sich für eine bessere Finanzierung der Krankenhausverpflegung auszusprechen. Das BMEL habe sich dazu geäußert und das Thema auf die Agenda der Ernährungsstrategie der Bundesregierung gesetzt, berichtete Pirlich. Das BMG sei aber der Meinung, dass das Thema Ernährung im Krankenhaus in der Verantwortung der Küche und der Selbstorganisation liege.
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