Nachhaltigkeit in den ärztlichen Alltag integrieren

Düsseldorf/Berlin – Die Ärzteschaft sollte mehr dazu beitragen, dass die Klimakrise als Gesundheitskrise wahrgenommen wird. Dieser Meinung war in der vergangenen Woche eine Expertenrunde, in der über mögliche Schritte zu einer nachhaltigen Arztpraxis gesprochen wurde.
„Die Klimakrise ist eine Menschheitsaufgabe, bei der die Zivilgesellschaft mitziehen muss“, sagte Johannes Wagner (Grüne), Arzt und Mitglied des Bundestages. Es sei Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sowie des Pflegepersonals und anderer gesundheitlicher Berufe in der Gesellschaft zu kommunizieren, welche Folgen der Klimawandel auf die Gesundheit haben werde.
„Klimaschutz bedeutet immer auch Gesundheitsschutz“, betonte Wagner. Für jede Praxis gebe es individuelle Lösungen, um zum Klimaschutz beizutragen und als Institution Verantwortung zu übernehmen.
Dem stimmte Christina Hecker, Dermatologin und engagiert im Bereich der Nachhaltigkeit, zu. Die Klimakrise sei ein Gesundheitsthema, an dem alle mitarbeiten müssten. Ärztinnen und Ärzte sollten diese Botschaft in die Breite der Bevölkerung tragen und sich auch für den Klimaschutz in der eigenen Praxis beziehungsweise am eigenen Arbeitsort engagieren, sagte sie.
„Viele denken, es sei teuer, nachhaltig zu arbeiten – doch das ist gar nicht der Fall“, betonte Hecker und verwies auf Projekte in ihrer Praxis. „Allein mit dem Umstieg vom Mineralwasser aufs Leitungswasser konnten wir über tausend Euro im Jahr einsparen“, erzählte sie. Die Flaschen abzuschaffen, sei eine wirklich günstige Lösung, die jeder umsetzen könne.
Um den hohen Plastikverbrauch einzuschränken, liegen in Heckers Praxis inzwischen auch keine Proben in Plastikverpackungen mehr aus. Die Partner könnten dies meist verstehen und auch auf andere Weise Werbung machen, sagte sie.
„In jeder Fachrichtung gibt es 'Low-hanging-Fruits', die jeder für sich persönlich finden kann“, betonte Hecker. Als Arzt oder Ärztin müsse man diese persönlichen Handlungsfelder nur für sich ausmachen, um einen Teil zum Klimaschutz beitragen zu können.
„Jede Praxis ist individuell, was die Möglichkeiten beim Klimaschutz angeht“, sagte auch Cornelia Buldmann, Allgemeinmedizinerin in Bielefeld. Auf vielen Praxisdächern könnten etwa auch Photovoltaikanlagen installiert werden, um einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Der Wechsel zu Ökostromanbietern würde ebenfalls etwas bringen.
Wagner betonte, dass es für viele Projekte auch finanzielle Förderungen durch die Politik gebe. So werde etwa der Umstieg von fossilen Heizsystemen auf Wärmepumpen oder die energiegerechte Sanierung bezuschusst. Photovoltaikanlagen seien in den vergangenen Jahren deutlich günstiger geworden, wodurch sich der Umstieg schon nach kurzer Zeit rechnen könne, sagte er.
Thomas Ballast, stellvertretender Vorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK), machte darauf aufmerksam, dass Klimaschutzmaßnahmen künftig auch zum patientenrelevanten Kriterium werden könnten, nach denen eine Praxis ausgewählt werde. „Den Patienten wird der Klimaschutz immer wichtiger“, beobachtete auch Buldmann in ihrer Praxis.
Siegel „Nachhaltige Praxis“
Ballast verwies in diesem Zusammenhang auf das Siegel „Nachhaltige Praxis – Klima. Umwelt. Mensch“, das die TK kürzlich zusammen mit dem Aqua-Institut entwickelt hat. Praxen müssen dafür nachweisen, dass sie ökologische und soziale Standards einhalten. Sie erhalten das Siegel nach einem Audit und einer unabhängigen Prüfung der Stiftung Praxissiegel.
Entscheidend für den Erwerb des Siegels ist eine grundlegend nachhaltige Gestaltung der Abläufe und Prozesse in der Arztpraxis. Dazu zählen beispielsweise Aspekte wie der Papierverbrauch und die Mülltrennung. Unterstützt werden die Praxen von einer eLearning-Plattform, auf der sie wissenschaftlich fundierte Informationen, Videos und Checklisten finden.
Auch für größere Projekte wie die Ermittlung des CO2-Fußabdrucks oder einen praxisindividuellen Hitzeschutzplan mit Verankerung in einem Nachhaltigkeitskonzept bietet die Plattform Möglichkeiten.
Für Schulungen und Umsetzung kann eine Praxis den Initiatoren zufolge etwa acht Monate einplanen, das Siegel ist für drei Jahre gültig. „Um die Kosten für das Nachhaltigkeitssiegel zu decken, gibt es im Rahmen des Vertrags zur Hausarztzentrierten Versorgung ab dem ersten Juli auch einen Innovationszuschlag“, betonte Ballast.
Nachhaltigkeitsprobleme im Praxisalltag
Neben Nachhaltigkeitsprojekten, die die Arztpraxen selbst aktiv angehen können, müssen den Experten zufolge auch weitreichendere Probleme angegangen werden. So stelle etwa die Verschreibung beziehungsweise Nutzung bestimmter Medikamente ein Problem für die Umwelt dar.
Die Experten führten als Beispiel aerosolbasierte Mittel an, die klimaschädliche Treibhausgase enthalten. Wagner zufolge könnten viele Narkosegase etwa problemlos durch Infusionen ersetzt werden. Dies betreffe auch Inhalatoren, die genauso gut mit einem Wirkstoff in Pulverform verschrieben werden könnten, ergänzte Hecker.
Auch Salben zur äußerlichen Anwendung sind den Experten zufolge oft ein Umweltproblem. Diclofenac werde etwa viel zu häufig verschrieben und fließe bei der nächsten Dusche einfach ins Abwasser, so Buldmann. Bereits in geringen Konzentrationen habe der Wirkstoff Auswirkungen auf das Ökosystem.
Die Allgemeinmedizinerin verwies auf Schweden und weitere skandinavische Länder, in denen von dem Schmerzmittel überwiegend abgeraten werde. Die skandinavischen Ärztinnen und Ärzte achteten bei der Verordnung von Medikamenten bereits verstärkt auf Nachhaltigkeits- und Umweltaspekte, sagte sie. Mithilfe bestimmter Listen, die jeweils auch die Abwasser- und Klimabelastung anzeigen, sei dies unkompliziert möglich.
„Dies müsste mit einem Seitenblick auch für die Ärzte in Deutschland direkt erkennbar sein“, sagte Buldmann. Bei der Verschreibung müssten sie einsehen können, was das Medikament bieten, was es aber auch schaden könne.
Um den Klima-Impact in den Praxen zu senken, ist der Allgemeinmedizinerin zufolge auch die Stärkung der Gesundheitskompetenz wichtig. „Wenn die Gesundheitskompetenz bei den Patienten niedrig ist, wird das Gesundheitssystem sehr viel in Anspruch genommen“, sagte sie.
Dies verbrauche wertvolle Ressourcen, auch in Bezug auf die Umwelt. Mit einer gesunden Ernährung und ausreichend Bewegung, aber auch Aufklärung darüber, welche Symptome man gut selbst behandeln könne, könne man einer Überlastung einfach vorbeugen.
Buldmann zufolge könnte man Gesundheitssystem und Umwelt auch schonen, wenn mehr Zeit für den einzelnen Patienten zur Verfügung stehen würde. Mit einer ausführlichen Anamnese und Untersuchung könne oft genauso gut eine Diagnose gestellt werden und der Patient müsse beispielsweise nicht zu radiologischen Untersuchungen weitergeschickt werden.
„Man muss eine Übertherapie vermeiden“, sagte Ballast. Häufig werde auch zu Operationen geraten, die gar nicht notwendig seien und durch andere Therapien umgangen werden könnten. Zweitmeinungsprogramme könnten vor vorschnellen Operationen schützen und zudem die Umwelt schonen.
Digitalisierung als Beitrag zum Umweltschutz
Um der Überlastung von Arztpraxen entgegenzuwirken und wichtige Ressourcen zu schonen, müsse man langfristig ohnehin erwägen, welche Patienten noch in die Praxis kommen müssten, so Ballast weiter.
Patienten mit einfachen Erkältungskrankheiten würden wichtige Praxisprozesse verlangsamen. Dies gehe zulasten der Patienten, die eine intensive Betreuung wirklich benötigen würden, sagte er. Einen wichtigen Beitrag könne in diesen Fällen die Digitalisierung leisten.
Nicht nur für die Patienten würden die Anfahrtswege zur Praxis entfallen und damit wichtige Ressourcen geschont werden, auch für den Arzt bedeute die digitale Sprechstunde sehr viel weniger Aufwand.
Wichtige Errungenschaften in Bezug auf den Klimaschutz im Gesundheitswesen sind Ballast zufolge auch das E-Rezept, das eine Menge Papier und Tinte einspare, und die elektronische Patientenakte (ePA). „Arztbriefe müssen so nicht mehr ausgedruckt und von Arzt zu Arzt getragen werden“, sagte er. „Im besten Fall brauchen die Patienten für einen Arztbesuch nur noch ihr Smartphone“. Die Informationsweitergabe unter den Ärzten funktioniere im besten Fall unkompliziert und schnell, so Ballast.
„Doch nicht jeder Arzt-Patienten-Kontakt ist ersetzbar“, mahnte Hecker an. Bei den digitalen Anwendungen komme es immer wieder zu Technikausfällen, die Einspeisung der Daten in die ePA bleibe erst einmal an den Praxen selbst hängen, kritisierte sie. Insgesamt sehe sie aber ein großes Potenzial.
Klimaschutz im Medizinstudium
Guilia Ritter, Präsidentin der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd), machte darauf aufmerksam, wie wichtig das Thema Nachhaltigkeit auch im Medizinstudium sei, um es im späteren Berufsalltag umsetzen zu können. Es halte langsam Einzug, allerdings könne sich diesbezüglich noch sehr viel mehr tun.
In Workshops und Projekten bietet der bvmd den Studierenden deshalb die Möglichkeit, sich außerhalb des regulären Studienalltags mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. „Wir sind die Generation, die frische Ideen in die Praxen und Krankenhäuser bringen kann“, sagte Ritter.
Die Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die ältere Generation zuhöre und Lust darauf habe, etwas verändern zu wollen. Gemeinsam könne man daran arbeiten, den nachfolgenden Generationen den Weg für mehr Nachhaltigkeit im ärztlichen Alltag zu ebnen und einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten.
Insgesamt sei in Sachen Klimaschutz im Gesundheitswesen schon Vieles in Bewegung und man arbeite an einem gemeinsamen Ziel, sagte Ballast abschließend. Man müsse bei dem Thema darauf achten, dass Klimaschutz nicht einen Verzicht, eine Disziplinierung oder gar Strafe darstelle. Man müsse im Gegenteil positive Beispiele schaffen, um im Gesundheitswesen mit gutem Beispiel vorangehen zu können.
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