Psychiater setzen sich für bessere Versorgung psychisch kranker Straftäter ein

Berlin – Um die Situation im Maßregelvollzug besser einschätzen zu können und wegen des Mangels an öffentlich zugänglichen Daten hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine Befragung aller 78 Kliniken für forensische Psychiatrie durchgeführt. Im Ergebnis fordert sie eine bessere Versorgung psychisch kranker Straftäter.
„Die Ergebnisse sind ernüchternd: Der Großteil der Kliniken, die sich an der Umfrage beteiligt haben, beklagt eine deutliche Überbelegung, nicht zuletzt aufgrund steigender Patientenzahlen“, berichtete Thomas Pollmächer, Präsident der DGPPN.
Zu wenig Personal und mangelhafte Räumlichkeiten verhinderten, dass Patienten eine optimale Behandlung erhielten. Mehr als jeder vierte Patient sei länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug untergebracht. Ein Drittel der Kliniken berichte eine steigende Zahl an körperlichen Übergriffen durch Patienten.
2019 waren nach Angaben der Fachgesellschaft etwa 12.000 Menschen nach Paragraf 63 oder Paragraf 64 Strafgesetzbuch (StGB) in Kliniken des Maßregelvollzugs untergebracht.
In den vergangenen Jahren sei ein deutlicher Anstieg solcher Unterbringungen zu beobachten. „Für Unterbringungen in Entziehungsanstalten (nach Paragraf 64 StGB) ist dies besonders deutlich, hier haben sich die Zahlen zwischen 2007 und 2019 fast verdoppelt“, berichtete Pollmächer.
Diese stetige Zunahme der Unterbringungszahlen führe zu einer immensen Belastung der Kliniken und bedrohe die Qualität der Behandlung, die entscheidend auch für die Reduzierung der Gefahr weiterer Straftaten nach Entlassung ist.
Von den angeschriebenen 78 Kliniken beteiligten sich 60 Prozent an der Befragung. Jutta Muysers, stellvertretende Leiterin des DGPPN-Referats „Forensische Psychiatrie“ und ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Langenfeld, wertete dies als „deutliches Zeichen, dass die Kliniken ein großes Interesse haben, zur Verbesserung der Datenlage beizutragen“.
„Die Ergebnisse unterstreichen dringenden Handlungsbedarf“, betonte Muysers. Zwei Drittel (68, 5 Prozent) der Kliniken gaben in der Befragung an, sie seien überbelegt. Um Raum für die Patienten zu schaffen, wurden in vielen Kliniken Einzelzimmer in Mehrbettzimmer umfunktioniert.
Vielfach werden auch Isolations- oder Therapieräume zweckentfremdet. Die meisten Stationen haben elf bis 20 Betten; 23 Stationen haben aber auch mehr als 30 Betten. „Bei einer so hohen Anzahl verliert man leicht die Übersicht über die Dynamik“, erklärte Muysers. Rund ein Drittel der Kliniken gab an, dass auch die Zahl der körperlichen Übergriffe durch Patienten angestiegen sei.
„Mehr als jeder vierte (28 Prozent) nach Paragraf 63 untergebrachte Patient ist länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug, weil seine andauernde Gefährlichkeit oder das Fehlen supportiver Angebote eine Entlassung nicht zulässt“, berichtete Jürgen L. Müller, Leiter des DGPPN-Referats „Forensische Psychiatrie“ und Chefarzt der Asklepios Fachklinik Göttingen Forensische Psychiatrie und Psychotherapie.
Mitverantwortlich für die lange Aufenthaltsdauer sei, dass erforderliche Therapien aus Ressourcengründen nicht durchgeführt werden können. Das gaben 60 Prozent der Kliniken in der Befragung an.
„Eine Reformierung des Maßregelvollzugs ist deshalb dringend nötig“, betonte Müller. Der Gesetzgeber habe das erkannt und in diesem Jahr einen Entwurf zur Reformierung des Paragraf 64 StGB, also der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, vorgelegt. Auch für den Paragraf 63 StGB sollen erneut Reformen angestoßen werden.
„Wir brauchen dringend eine Vereinheitlichung der gesetzlichen Grundlagen über die Bundesländer hinweg, eine Reform des Maßregelrechts, eine auskömmliche Finanzierung und eine bundesweite Erfassung der Daten zu Unterbringung und Behandlung“, forderte der Psychiater.
Darüber hinaus sollte auf Bundesebene eine Expertenkommission zur Zukunft des Maßregelvollzugs eingesetzt werden. Die Forschung zu forensisch-psychiatrischen Fragestellungen müsse gestärkt werden, um die Versorgung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse verbessern zu können.
„Am besten wäre es natürlich, wenn es erst gar nicht zu Straftaten oder in der Folge zur Unterbringung kommen müsste. Dafür brauchen wir eine deutliche Stärkung der Prävention, einen Wiederaufbau der Vernetzung mit der Allgemein- und Gemeindepsychiatrie und eine Stärkung supportiver und nachbetreuender Einrichtungen“, betonte DGPPN-Präsident Pollmächer.
Die DGPPN will sich auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen einsetzen, die unabhängig von ihrer Erkrankung straffällig geworden sind. „In Deutschland sitzen derzeit etwa 45.000 Personen in Justizvollzuganstalten (JVA) ein“, berichtete Pollmächer.
Schätzungen zu Folge litten bis zu 88 Prozent der Inhaftierten unter einer oder mehreren psychischen Erkrankungen. 30 Prozent bis 50 Prozent seien suchtkrank, rund vier Prozent litten an einer psychotischen Störung. Genauere Zahlen fehlten aber.
Unabhängige Berichte, wie zum Beispiel von der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, geben dem DGPPN-Präsidenten zufolge Hinweise darauf, dass die psychiatrische Versorgung in vielen JVAs unzureichend ist.
„Es wird von mangelnden Behandlungen, von langen Absonderungen in besonders gesicherten Hafträumen oder auch von Fixierungen berichtet“, sagte er. Die Ursachen seien vielfältig: Häufig gebe es keine psychiatrischen Aufnahmeuntersuchungen, so dass Erkrankungen unerkannt blieben. Zudem gebe es vielfach zu wenig psychiatrisch-psychotherapeutisches Personal in den JVA.
Wie im Maßregelvollzug unterscheide sich auch die Situation in den einzelnen Justizvollzugsanstalten sehr – nicht zuletzt abhängig vom Bundesland. Neben den Berichten über unzureichende Versorgungen gebe es zum Beispiel auch gut funktionierende Kooperationen zwischen JVAs und psychiatrischen Kliniken in der Umgebung.
Pollmächer konstatierte, dass systematische und verlässliche Daten zur bundesweiten Versorgungslage fehlten. „Wir planen deshalb eine Umfrage zur psychiatrischen Versorgungslage in deutschen Justizvollzugsanstalten, um auf dieser Grundlage dann Handlungsempfehlungen zu erarbeiten und Lösungsvorschläge vorzulegen.“
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