Psychische Belastungen steigen durch Krisen, Versorgungskapazitäten erschöpft
Düsseldorf – Die Coronapandemie ist eine sozialpsychologische Feldstudie zu den Folgen von Kontaktentzug und Einsamkeit gewesen. Das hat der Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen (NRW), Gerd Höhner, bei einer Veranstaltung anlässlich des 22. Bestehens der Kammer am vergangenen Freitag in Düsseldorf betont.
„Viele Menschen empfinden immer noch Unsicherheit und Bedrohung, sie sind überfordert. Es herrscht ein hohes Maß an Unzufriedenheit und Anspannung", so der Präsident der mit 14.300 Mitgliedern größten Landespsychotherapeutenkammer in Deutschland.
Zu den Folgen der Coronapandemie komme die Bedrohung durch den Angriffskrieg auf die Ukraine und durch den Klimawandel. „Das Bedrohungserleben ist in unseren Praxen angekommen. Die psychische Belastung der Menschen hat zu einer erheblichen Nachfrage nach psychotherapeutischer Hilfe geführt”, erklärte Höhner.
Insbesondere auch von Kindern und Jugendlichen. Es würden Symptome wie Anspannung, Schlafprobleme, Angstgefühle, Panik, autoaggressive Handlungen, körperliche Beschwerden, Essstörungen, Kraftlosigkeit, Resignation, Depressivität und Drogenkonsum geschildert.
„Gleichzeitig sehen wir eine Flucht der Menschen in die Irrationalität, in Ersatz- und Parallelwelten, und eine anwachsende Aggressionsbereitschaft in Wort und Tat”, so der Landeskammerpräsident weiter. Den falschen Versprechungen einfacher und schneller Lösungen müssten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten jedoch „unüberhörbar wiedersprechen”. Sie müssten den Menschen die Wahrheit zumuten, um sie wieder handlungsfähig zu machen und das Erleben des Ausgeliefertseins zu überwinden.
Auch der Vertreter der Politik sieht eine „Vertrauenskrise und große Skepsis” gegenüber dem Staat.„Psychotherapeuten werden umso mehr gebraucht”, sagte Matthias Heidmeier, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW (MAGS). Um die Menschen besser versorgen zu können, begrüße er eine Reform der Bedarfsplanung, die zu mehr Psychotherapeutensitzen führen könne.
„Das Versorgungsangebot ist nicht im gleichen Maße wie die psychische Belastung der Menschen durch die vielen Krisen angewachsen”, erklärte Barbara Lubisch, Beisitzerin im Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW. Um die Situation in NRW für psychisch kranke Menschen zu verbessern, liefen zurzeit Gespräche und Abstimmungen mit dem MAGS. Erwogen werde, Paragraf 103 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch V zu nutzen. „Ich bin aber zuversichtlich, dass es in einigen besonders schlecht versorgten Orten tatsächlich zusätzliche Sitze geben wird“, sagte sie.
Darüber hinaus müsse aber auch bundesweit eine Reform der Bedarfsplanung angegangen werden, forderte die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Notwendig sei auch eine eigene Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, weil Heranwachsende wohnortnah versorgt werden müssten. Von den Krankenkassen wünscht sich Lubisch, dass sie den Kampf um mehr Kassensitze im Gemeinsamen Bundesausschuss unterstützen.
Genügend Psychotherapeuten, die diese Kassensitze besetzen könnten, wird es Lubisch zufolge durchaus geben, denn „das Interesse an unserem Beruf ist nach wie vor groß”. Nicht nur in NRW hätten die Universitäten unter großer Kraftanstrengung neue Studiengänge in Klinischer Psychologie und Psychotherapie etabliert. Die ersten approbierten Absolventinnen und Absolventen würden zum Sommersemester 2024 erwartet.
Das Problem sei nun die anschließende Weiterbildung zum Fachpsychotherapeuten. „Alle Beteiligten zögern mit der Umsetzung, weil die Finanzierung der Weiterbildung immer noch nicht gesetzlich geregelt ist”, kritisierte die Psychotherapeutin und appellierte an das Bundesgesundheitsministerium hier endlich aktiv zu werden.
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