Vermischtes

Kindergesundheits­bericht stellt seelische Belastung bei Jugendlichen fest

  • Freitag, 22. September 2023
/kleberpicui, stock.adobe.com
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Berlin – Die Überlastung von Gesundheits-, Schul- und Jugendhilfesystemen erschwert die Prävention seeli­scher und körperlicher Störungen. Auch das Thema Klimaangst gewinnt an Bedeutung. Das zeigt der Kinder­gesundheitsbericht 2023 der Stiftung Kindergesundheit.

„Jugendliche haben ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung. Alle Akteure der Gesellschaft sind gefor­dert, die Entwicklungschancen junger Menschen bestmöglich zu fördern“, sagte Berthold Koletzko, Kinder- und Jugendarzt sowie Vorstand der Stiftung Kindergesundheit. Der Kindergesundheitsbericht 2023 liefere Ideen, wie dies besser gelingen könne.

Im Fokus des diesjährigen Berichts steht die seelische und körperliche Gesundheit der rund acht Millionen Jugendlichen in Deutschland. Abgebildet werden Themen, die der Stiftung im Hinblick auf die Jugendgesund­heit beson­ders relevant schienen.

Der Report versammelt Studiendaten der vergangenen Jahre, Interviews und Erfahrungsberichte und bildet Maßnahmenvorschläge und Empfehlungen ab. Sie sollen eine Grundlage für die gesundheitspolitische Dis­kussion bilden.

Ein Schwerpunkt: die mentale Gesundheit Jugendlicher. Den vorgestellten Untersuchungen zufolge sind junge Menschen durch die aktuelle Krisenlage stark belastet. Vor allem infolge der Coronapandemie seien emotio­nale Störungen und Suizidversuche überdurchschnittlich häufig verzeichnet worden, ergab eine Studie der DAK Gesundheit, die im Kindergesundheitsbericht zitiert wird.

Aus einer Untersuchung des BKK Dachverbands geht hervor, dass in den Pandemiejahren 2020 und 2021 besonders die 15-19-Jährigen weiblichen Versicherten unter psychischen Symptomen gelitten haben. Über­durchschnittlich häufig waren demnach Angst- und Anpassungsstörungen zu verzeichnen.

Die Autoren Dirk Rennert, Karin Kliner und Matthias Richter vom BKK Dachverband erklären dies mit der Einschränkung sozialer Aktivitäten während der Coronapandemie, die Mädchen offensichtlich besonders betroffen habe.

Die Adoleszenz sei ohnehin eine „vulnerable Lebensphase“, erklärte Katharina Bühren, Ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, im Kinderge­sundheitsbericht. Die Gehirnstruk­turen veränderten sich in dieser Zeit und könnten die Entstehung psychi­scher Störungen beeinflussen. Hinzu kämen genetische Veranlagungen und Einflüsse von außen, wie etwa durch Freunde, Familie und Gesell­schaft.

Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugendalter zählen Bühren zufolge depressive Störungen, Essstörungen, Angst- und Zwangsstörungen sowie psychotische und Suchterkrankungen. Die Ärztin bestätigt, dass Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen. Aus dem eigenen Berufsalltag berichtet sie außerdem, dass psychische Belastungen unter Jugendlichen seit der Pandemie deutlich zunehmen.

Nicht nur Pandemie bereitet Sorgen

„Direkt nach der Coronakrise sehen sich die Kinder und Jugendlichen mit neuen Sorgen konfrontiert: der Ukrainekrieg, die Energie- und Klimakrise“, berichtete Ulrike Ravens-Sieberer, Professorin für Gesundheits­wissenschaften, Gesundheitspsychologie und Versorgung von Kindern und Jugendlichen am Universitäts-Klinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), im Report. Vielen mache die äußere Unsicherheit und Belastung zu schaffen.

Problematisch seien nach wie vor die wenigen Unterstützungsangebote, so Ravens-Sieberer: „Wir haben es als Gesellschaft nicht gut hinbekommen, rasche Hilfen und Unterstützung für junge Menschen zu organisieren.“ Zuletzt hätten sich die Wartezeiten auf einen Therapieplatz verdoppelt.

Dies bestätigt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Bühren ebenfalls: „Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung ist deutschland­weit unzureichend. Das war schon vor der Pan­demie so.“ Alle Hilfesysteme für Kinder und Jugendliche seien derzeit chronisch überlastet.

Ursache sei die Deckelung der Kassensitze für Psychotherapeuten, erläuterte Ravens-Sieberer. Die Interminis­terielle Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ habe im Februar 2023 zwar angekündigt, das Versorgungsangebot auszubauen. Wie viel davon umgesetzt würde, sei auch von den finanziellen Möglichkeiten abhängig, gibt die Forschungsdirektorin zu bedenken.

Einigen Familien wäre schon geholfen, wenn sie ohne vorherige Überweisung mit einem Psychologen oder Sozialarbeiter ins Gespräch kommen könnten, schlägt Franziska Reiß, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungssektion „Child Public Health“ des UKE, vor. Ein Ort wäre beispielsweise die Schule. In Modellpro­jekten würde dies in Form von „Mental Health Coaches“ schon ausprobiert.

Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch die Autoren der BKK-Studie: „Niedrigschwellige Angebote, die in der Lebenswelt der Jugendlichen angesiedelt sind, wie zum Beispiel Sozialarbeiter in den Schulen oder an­dere vor allem digitale Präventionsprogramme, sind eine Möglichkeit, die psychische Gesundheit Jugendlicher positiv zu beeinflussen.“

Sowohl Rennert, Kliner und Richter als auch Ravens-Sieberer, Reiß und Bührer sehen einen deutlichen Hand­lungsbedarf in Bezug auf präventive, lebensnahe Angebote für die jungen Menschen, um zu verhindern, dass sich psychische Probleme chronifizieren und bis ins Erwachsenenalter getragen werden.

Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt im Report, sich vor allem um ein breit zugängliches psychosoziales, psychotherapeutisches und psychiatrisches Angebot zu kümmern, das durchaus auch an die Schulen vor Ort gebunden sein sollte.

Nötig seien dafür auch Investitionen in sozialpädagogische Fachkräfte, Schulpsychologen und Schulgesund­heitsfachkräfte. Auch die Einführung des Themas „mentale Gesundheit“ in den Lehrplan und die Fortbildung von Lehrkräften sei wichtig. Die Angebote sollten rechtzeitig greifen können und die Jugendlichen vor tiefer­greifenden psychischen Problemen bewahren.

Klimaangst als neues Phänomen

Neben Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation und Energiekrise führt unter den Jugendlichen besonders die globale Erwärmung zu Unsicherheiten und seelischen Belastungen. Gesprochen wird im Kindergesundheitsbericht von einer „Klimaangst“.

„Kein Wunder, schließlich sind sie die Generation, die von den Folgen der Krise am meisten betroffen sein wird“, sagte der Grünen-Politiker Johannes Wagner, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundes, anlässlich der Veröffentlichung des Berichts. Er befürwortete, dass die wachsende Sorge um das Klima in den Report aufgenommen wurde.

Ernst Dietrich Munz, Präsident der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg, zitiert im Kinder­gesundheitsbericht eine internationale Studie, nach der sich 59 Prozent der 16-25-Jährigen große Sorgen wegen des Klimawandels machten. Einerseits liege dies an der unmittelbaren und langfristigen Betroffenheit der Jugendlichen. Andererseits lernten sie in diesem Alter noch, mit starken Emotionen umzugehen.

„Sorgenvolle Gedanken um die zukünftige Entwicklung des Klimas können den Schlaf beeinträchtigen, traurig stimmen oder es kann im Angesicht der nur schwer einzugrenzenden Langzeitfolgen des Klimawandels zu Momenten der Verzweiflung kommen“, beschreibt Munz die klimabezogenen Gefühle. Sie würden sich mit Zu­spitzung der Klimakrise weiter verstärken. In der Gesellschaft fänden sie bislang zu wenig Berücksichtigung. Dies müsse sich ändern.

Er betonte, dass die Klimaangst jedoch keine psychische Erkrankung, sondern vielmehr eine angemessene Reaktion auf die reale Bedrohung durch die Klimakrise sei. Um mit den Jugendlichen nachhaltig über Klima­ge­fühle reden zu können, sollten Eltern und Lehrkräfte Beratungsangebote zur Verfügung gestellt werden, empfiehlt der Psychologische Psychotherapeut.

Mit etwas Hintergrundwissen könnten sie die jungen Menschen besser unterstützen und ihnen bei der Be­wältigung starker Emotionen helfen. Weiterhin schlägt er die Nachhaltigkeitsbildung als festen Bestandteil des Lehrplans vor, um Jugendlichen den Umgang mit der Klimakrise näherzubringen.

Daneben motiviere Klimaangst viele Menschen auch dazu, sich aktiv für die Bekämpfung der Folgen einzu­setzen. „Sich klimapolitisch zu engagieren, kann eine sehr hilfreiche Methode im Umgang mit negativen Klimagefühlen sein, da dadurch die selbst wahrgenommene Wirksamkeit des eigenen Handelns und das Kontrollerleben steigen“, sagte Munz. Er rät Jugendlichen dazu, sich auszutauschen und für das Klima zu engagieren.

Um die nachwachsenden Generationen vor psychischen und physischen Folgen durch die Klimakrise zu schützen, fordert er auch die Politik zum Handeln auf: „Ohne reale Erfolge in der Klimapolitik werden wir auch bei der Bewältigung von Klimagefühlen an unsere Grenzen stoßen.“

Der diesjährige Kindergesundheitsbericht beschäftigt sich neben der mentalen Gesundheit unter anderem mit den Themen Bewegung, Ernährung und Gesundheitskompetenz. Letztere erscheint bei den deutschen Jugendlichen im Vergleich mit anderen europäischen Ländern noch deutlich ausbaufähig.

Darüber hinaus kommt der Report zu dem Schluss, dass Jugendliche stärker an der Gestaltung ihrer eigenen Gesundheit beteiligt werden sollten, damit ihre Rechte auf Gesundheit und Selbstbestimmung besser ge­schützt werden.

nfs

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