Psychosoziale Gesundheit: Frauen in Afghanistan sind vielfach Gewalt ausgeliefert

Berlin – Viele Menschen in ärmeren Ländern weltweit haben keinen oder nur einen erschwerten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Darauf hat Mareike Haase von der Hilfsorganisation Brot für die Welt gestern bei einem Fachgespräch hingewiesen.
Sie betonte, gleichzeitig werde der Fokus bei den Förder- und Hilfsprogrammen der Industrienationen seit der Coronapandemie stark auf die Vermeidung von Infektionskrankheiten gelegt. Andere, wie zum Beispiel psychische Erkrankungen, würden hingegen vernachlässigt. „Besonders deutlich wird das in Afghanistan“, sagte sie.
„Es muss sehr viel Traumaarbeit geleistet werden“, berichtete Theresa Breuer, Journalistin und Filmemacherin, die über Jahre Frauen in Afghanistan begleitet hat. Attacken auf Frauen, entweder in ihrem Zuhause oder auf der Straße, gebe es jederzeit.
„Keine Frau fühlt sich in dem Land sicher“, sagte Breuer. Viele junge Frauen seien mithilfe der Initiative Luftbrücke nach Deutschland und England ausgeflogen worden, berichtete sie und warb dafür, diesen Weg in die Freiheit noch mehr Frauen zu ermöglichen. „Wir dürfen die Frauen in Afghanistan nicht verrotten lassen.“
Seit der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 dürfen Frauen keine höheren Schulen und seit Ende vergangenen Jahres keine Universitäten mehr besuchen. Auch ist ihnen mittlerweile der Besuch von öffentlichen Parks und Fitnessstudios untersagt. Da die Taliban Frauen den Zugang auch zu vielen Berufen versperren, sind gerade Haushalte, die von Frauen geführt werden, nach Angaben von Hilfsorganisationen besonders von Armut bedroht.
Aktuell drohe sich die humanitäre Krise in Afghanistan noch weiter zu verschärfen. Das betonte die Hilfsorganisation World Food Programme (WFP) auch gestern in Berlin. Jede zweite Familie sei praktisch im „Überlebensmodus“, das Risiko für eine Hungersnot sei in den vergangenen 25 Jahren „so hoch wie noch nie“.
Die Ärztin Shabnam Sawgand, deren Familie noch in Afghanistan lebt, berichtete davon, dass „Menschen ihre Organe verkaufen, um ihre Familie zu ernähren“. Die in den Iran migrierte Expertin kümmert sich insbesondere um die psychosoziale Gesundheit von Frauen, die Gewalt erfahren haben. Nach ihrer Einschätzung hat jede zweite Frau in Afghanistan „mental health issues“. Viele litten unter Angststörungen, Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen.
Versorgt werden betroffene Frauen nach Angaben der Ärztin aber kaum. Zum einen, weil psychische Erkrankungen in Afghanistan ein Tabuthema seien. Zum anderen, weil sie von Männern die Erlaubnis brauchten, ein „mental health center“ aufzusuchen, und die Behandlung dort dann häufig von Männern durchgeführt werde. Landesweit gibt es Sawgand zufolge 320 Betten für psychische Erkrankungen. Seit der Machtübernahme der Taliban drohe das Gesundheitssystem zudem gerade zusammenzubrechen.
„Vor der Machtübernahme gingen Frauen in Afghanistan extrem häufig zum Arzt und bekamen dort Medikamente, wie Antidepressiva, verordnet“, berichtete Journalistin Breuer, die einige Jahre selbst in dem Land gelebt hat. Als Grund für die häufigen Arztbesuche vermutet sie, dass die Frauen nur dann Aufmerksamkeit erhalten und ihnen zugehört wird.
Der Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Jürgen Kretz betonte, dass einige Projekte zur psychosozialen Versorgung in Afghanistan weiterlaufen. „Die tragenden NGO’s (Nichtregierungsorganisationen) werden aus Sicherheitsgründen aber nicht genannt“, sagte er. Grundsätzlich gebe es die klassische Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Taliban aber nicht mehr.
Seit Ende letzten Jahres dürfen afghanische Frauen mit Ausnahme weniger Bereiche nicht mehr für Hilfsorganisationen arbeiten, seit kurzem gilt dieses Verbot auch für die Vereinten Nationen (UN). Dennoch gebe es Wege, die Arbeit fortzusetzen, betonte WFP-Landesdirektorin Hsiao-Wei Lee.
„Solange wir weiterhin die bedürftigsten der Menschen erreichen, werden wir im Land bleiben“, so Lee. Nicht zuletzt sei das auch wichtig, da ein hoher Anteil afghanischer Haushalte von Frauen geleitet würden.
Gleichzeitig würden Engpässe bei der Finanzierung humanitäre Hilfe in dem Land massiv einschränken. „Die Weltgemeinschaft muss das Ausmaß der Krise anerkennen“, forderte Lee. Auch würden die regierenden Taliban humanitäre Hilfe in dem Land erschweren.
Seit der vollständigen Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist die ohnehin kränkelnde Wirtschaft im Land über Nacht kollabiert. Sanktionen gegen die Herrschaftsform der Taliban, die international vor allem wegen ihrer Beschneidung von Frauenrechten in Kritik stehen, verschärfen die Lage zusätzlich.
Nach Angaben der Vereinten Nationen unterstützen die UN und ihre Partner, einschließlich nationaler und internationaler NGOs, derzeit mehr als 28 Millionen Afghanen, die für ihr Überleben von humanitärer Hilfe abhängen. In dem Land leben geschätzt 37 Millionen Menschen.
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