5 Fragen an...

„ME/CFS ist für die allermeisten Betroffenen eine schwere und chronische Erkrankung“

  • Sonntag, 13. November 2022

Berlin – Die myalgische Enzephalomyelitis/das chronische Fatiguesyndrom (ME/CFS) ist immer noch eine unterschätzte und zu wenig bekannte Erkrankung. Auch wenn sie mehr und mehr Aufmerksamkeit als eine Form des Post-COVID-Syndroms erhält. Dabei sind die Patientinnen und Patienten mit ME/CFS häufig schwer erkrankt und in ihrem Alltagsleben teils erheblich eingeschränkt. Darüber hinaus vergehen nicht selten mehrere Jahre, bis die Diagnose ME/CFS gestellt wird.

Hinsichtlich Entstehung, Diagnose und Therapie der Erkrankung sind demnach noch viele Fragen unbeant­wortet. Im Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt () spricht Carmen Scheibenbogen, Institut für Medizinische Immunologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin, über den aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS.

Carmen Scheibenbogen /Charité Universitätsmedizin Berlin
Carmen Scheibenbogen /Charité Universitätsmedizin Berlin

Fünf Fragen an Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz, Charité Universitätsmedizin Berlin

Deutsches Ärzteblatt: Wie viele Menschen leiden in Deutschland an ME/CFS, wie hoch ist die Dunkelziffer? Welche Menschen sind besonders betroffen?
Carmen Scheibenbogen: Zu der Zahl der Betroffenen in Deutschland gibt es bisher keine Daten aus epidemiolo­gischen Studie, die interna­tionalen Studien berichten von 0,1 bis mehr als 1 %.

Man geht von einer hohen Zahl von Betroffenen aus, die keine Diag­nose haben beziehungswiese bei denen die Diagnose somatoforme Störung gestellt wurde.

Die Zahlen haben infolge der Coronapan­demie stark zugenommen. Der Erkrankungsgipfel liegt bei bei 30 bis 40 Jahren. Frauen sind doppelt so häufig betroffen (Medicina 2021, DOI: 10.3390/medicina57050510).

DÄ: Was ist über die Ursachen von ME/CFS bekannt?
Scheibenbogen: Bei mehr als zwei Dritteln der von ME/CFS Betroffe­nen wird die Erkrankung durch eine Infektion ausgelöst, häufig etwa durch eine späte Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV). ME/CFS gehört auch zu den Folgeerkrankungen von COVID-19 (Nature Communications 2022, DOI: 10.1038/s41467-022-32507-6).

Die Pathogenese des ME/CFS ist nur in Teilen aufgeklärt. Nach den verfügbaren Evidenzen handelt es sich um eine Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems, des Gefäßsystems und des zellulären Energiestoffwechsels (Autoimmunity Reviews 2018, DOI: 10.1016/j.autrev.2018.01.009).

Psychosomatische Hypothesen zur Ätiopathogenese sind bei Infekt-getriggertem ME/CFS heute nicht mehr haltbar (Journal of General Internal Medicine 2020, DOI: 10.1007/s11606-019-05375-y).

DÄ: Welche Symptome stehen im Vordergrund?
Scheibenbogen: Das Leitsymptom der Erkrankung ist die Belastungsintoleranz mit Symptomverschlechterung nach, oft schon leichter, Alltagsanstrengung, auch post-exertional malaise (PEM) genannt. Diese hält mindes­tens bis zum nächsten Tag (14 Stunden) an, kann aber auch Tage und Wochen dauern.

Ebenso gehören die schwere Fatigue, neurokognitive Störungen (brain fog), Schmerzen − meist Muskel- und/­oder Kopfschmerzen − sowie häufig auch Schlafstörung und orthostatische Intoleranz zum Krankheitsbild. Charakteristisch ist auch eine Reizempfindlichkeit wie bei der Migräne.

DÄ: Wie kann ME/CFS erkannt werden?
Scheibenbogen: Als Diagnosekriterien haben sich in den letzten Jahren international die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) etabliert. In deutscher Übersetzung sind sie auf der Webseite der Charité uabrufbar.

Patientinnen und Patienten weisen meist auch klinisch auffällige Befunde auf, wie die oft verminderte Handkraft und eine periphere Minderdurchblutung mit kalten Händen, teilweise auch ein Raynaud-Syndrom.

Häufig findet sich auch eine orthostatische Dysregulation im Schellong-Test. Dieser ist sensitiver, wenn sich die Patientin/der Patient dabei anlehnt (Die Innere Medizin 2022, DOI: 10.1007/s00108-022-01369-x).

DÄ: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es und wie ist die Prognose?
Scheibenbogen: Eine ursächliche Therapie wurde bisher nicht etabliert, sodass die Therapie symptomorien­tiert ist. Hier kann oft mit einer Behandlung von Schlafstörungen, Kreislaufbeschwerden und Schmerzen geholfen werden. Ein wichtiger Baustein ist das Aktivitätsmanagement und Stresskontrolle mit Atem- oder Entspannungstechniken, um PEM zu vermeiden (Die Innere Medizin 2022, DOI: 10.1007/s00108-022-01369-x).

ME/CFS ist für die allermeisten Betroffenen eine schwere und chronische Erkrankung und etwa die Hälfte bleibt arbeitsunfähig. Durch eine individuell angepasste „Pacing“-Strategie sowie mit angemessener medizi­nischer und sozialer Unterstützung kann es langfristig zu einer Stabilisierung und Verbesserung kommen.

Bislang fehlt vielen Erkrankten jedoch eine entsprechende Betreuung (Medicina 2021, DOI: 10.3390/medicina57070646). Die wenigen klinischen Studien, die bisher durchgeführt wurden, geben erste Hinweise, dass Autoantikörper-depletierende Therapien wirksam sein können (Autoimmunity Reviews 2018, DOI: 10.1016/j.autrev.2018.01.009). Kontrollierte Therapiestudien beginnen jetzt auch in Deutschland. Weitere Studien sind dringend notwendig.

aks

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