Politik

Bundesregierung dämpft Erwartungen an Aufhebung der Impfpriorisierung

  • Freitag, 23. April 2021
/picture alliance, Sebastian Gollnow
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Berlin – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat Erwartungen gedämpft, dass bereits im Juni jedem Bürger ein Impfangebot gemacht werden kann. Die voraussichtliche Aufhebung der Priorisierung im Juni heiße nicht, dass man innerhalb von einer Woche gleich jedem einen Termin geben und im Juni schon alle impfen könne, sagte Spahn heute in Berlin. „Das wird bis in den Sommer hinein gehen müss­en.“

Der Minister hatte erst gestern angekündigt, dass im Juni voraussichtlich die Priorisierungen aufgehoben wer­den könnten, die den Zugang zu den Impfungen bislang noch an bestimmte Voraussetzungen knüp­fen. Möglich werden soll dies durch die deutlich gestiegene Menge an Impfstofflieferungen.

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) betonte heute, die Aufhebung könne viele Menschen bedeuten, dass sie sich deutlich früher impfen lassen könnten als vielleicht befürchtet. „Wenn die Hersteller so lie­fern, wie sie es uns versprochen haben, dann werden wir im Laufe des Mai so viel Impfstoff bekommen, dass wir allen, die eine Priorisierung haben, ein Impfangebot machen können“, sagte Braun.

Dann könne ab Juni begonnen werden, über die Betriebsärzte und über die Hausärzte auch die breite Bevölkerung zu impfen. „Die Priorisierung können wir Anfang Juni aller Voraussicht nach aussetzen“, sagte der Minister.

Es werde demnach jedoch auch dann noch Wartezeiten geben. Braun schränkte deshalb ein: „Das heißt nicht, dass dann schon Anfang Juni für alle genug Impfstoff vorhanden sein wird.“ Es bleibe aber dabei, dass bis zum Sommer jedem ein Impfangebot gemacht werden könne.

Zugleich appellierte der Chef des Kanzleramtes an alle Menschen, dieses Angebot dann auch anzuneh­men. Die Erfahrung bei der Grippeimpfung zeige, dass noch nicht einmal 50 Prozent der Deutschen die­ses Angebot annehme. „Mit so einer Impfquote könnte man die Coronapandemie nicht besiegen“, so der ausgebildete Intensivmediziner Braun. Ziel sei es, dass sich möglichst alle Erwachsenen impfen lassen.

Auch der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hält eine Aufhebung der Impfreihenfolge in Nordrhein-Westfalen (NRW) Anfang Juni für möglich. Voraussetzung sei, dass es mehr Impfstoff gebe, sagte Laumann im Radiosender WDR 5.

Vorgestern hatte Laumann im Gesundheitsausschuss des Landtags gesagt, rund 60 Prozent der Bevöl­ke­rung in NRW könne bis Juli geimpft sein. Im Juni, wenn mehr Impfstoff bereit stehe, müsse das Impf­sys­tem auch für Betriebsärzte geöffnet werden.

Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Sachsen befürwortet eine generelle Aufhebung der Impfpriorisierung und mehr Entscheidungsbefugnisse für die Ärzte. Mit der neu aufgemachten Prioritä­ten­gruppe 3 hätten viele Menschen Anspruch auf eine Coronaschutzimpfung, sagte Klaus Heckemann.

So lange der Impfstoff aber knapp sei, müssten die Ärzte in den Praxen ohnehin entscheiden, wer ge­impft werden könne – etwa nach Alter und Vorerkrankungen. „Wenn die Ärzte innerhalb der Prioritäten­gruppe entscheiden, kann man die Priorisierung auch gleich aufheben.“ Heckemann sprach sich dafür aus, den Ärzten mehr Vertrauen für ihre Entscheidungen entgegenzubringen.

Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein appellierte an die Politik mehr Impfstoff in die Arztpraxen zu bringen. Darüber hinaus müsse die Impfpriorisierung für die Praxen „ganz zeitnah aufgehoben werden“, mahnte KV-Chef Frank Bergmann. Dann gewinne man weiter an Fahrt in der Impfdynamik und die nie­dergelassenen Ärzte in Nordrhein müssten sich nicht mehr damit auseinandersetzen, wen sie zur Im­pfung einladen dürften und wen nicht. „Das erspart uns viel Arbeit und Organisationsaufwand.“

Das sieht auch der Berufsverband der Deutschen Urologen (BvDU) so. „Um den Impfprozess künftig wei­ter zu beschleunigen, fordern wir als Berufsverband, dass die Priorisierung ausläuft, wenn jetzt ausrei­chend Impfstoff vorhanden ist“, sagte BvDU-Präsident Axel Schroeder. Jeder Arzt, jede Impfung zähle, ob im Impfzentrum oder in der Arztpraxis.

Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) sprach sich ebenfalls dafür aus, die starre Impf­pri­o­­risierung für Arztpraxen ab sofort aufzuheben.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) begrüßte heute die Entscheidung einiger Bundesländer, den Impf­stoff von Astrazeneca nun doch wieder auch Menschen unter 60 Jahren anzubieten. Dies sei eine „sehr vernünftige Maßnahme“, sagte PEI-Präsident Klaus Cichutek in Berlin. Wegen einer Reihe von Hirnvenen­thrombsen bei jüngeren Menschen war die Abgabe des Vakzins zuvor auf Menschen ab 60 Jahren beschränkt wor­den.

Cichutek verwies darauf, dass der Impfstoff von Johnson & Johnson bezüglich der Hirnvenenthrombosen offenbar weniger riskant sei als Astrazeneca. Während bei Johnson & Johnson in den USA ein Fall auf eine Millionen Impfungen komme, gebe es bei Astrazeneca in Europa eine Meldung pro 100.000 Impfun­gen. Deshalb verzichte die Ständige Impfkommission (STIKO) vorerst auf eine Altersbeschränkung für Johnson & Johnson.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) rief heute auch zu Solidarität mit den noch ungeimpften jüngeren Grup­pen in der Bevölkerung aufgerufen. Viele jüngere Menschen hätten sich in der Pandemie stark einge­schränkt und so gefährdete Ältere und Risikopatienten geschützt, sagte RKI-Vizepräsident Lars Schaade heute in Berlin.

„Wir müssen uns bitte noch weiter einschränken, damit auch diese Personen eine Chance haben, sich impfen zu lassen, bevor das Virus sie erwischt.“ Auch für die Jüngeren und Gesunden sei das Virus nicht harmlos. Auch sie könnten schwere Verläufe erleiden; zudem drohten Langzeitfolgen.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) hat sich für ein möglichst einheitliches Vor­gehen der Länder bei der Freigabe der Coronaimpfungen für alle Bevölkerungsgruppen ausgesprochen. Zum jetzigen Zeitpunkt sei eine Aufhebung der Priorisierung aber nicht geboten, „weil einfach nicht ge­nügend Impfstoff da ist“, sagte Günther am Rande des Besuchs eines Impfzentrums in Husum. Dies werde Thema der Beratungen der Regierungschefs von Bund und Ländern am kommenden Montag sein.

Spahn zufolge will sich der Impfgipfel am Montag auch mit der ethisch heiklen Frage befassen, welche Beschränkungen für Geimpfte wegfallen sollen. Ein Aspekt sei: „Wie behandele ich vollständig Geimpfte in Relation zu tagesaktuell negativ Getesteten?“, so Spahn. Voller Impfschutz könne einem negativen Test­ergebnis gleichgestellt werden. Das betrifft laut Spahn etwa den Wegfall der Quarantänepflicht nach einem Kontakt zu einem Infizierten, die Regeln bei Einreiseverordungen und bei Öffnungsschritten etwa für Geschäfte.

Eine andere Frage sei: „Darf man jemanden, der vollständig geimpft ist, noch Kontaktbeschränkungen auferlegen?“ Laut Spahn müssen die im Grundgesetz geschützten Interessen des Einzelnen und die gleich­zeitig hoch zu wertenden Schutzbedürfnisse insgesamt abgewogen werden.

Die Regierung bereite für die Runde der Länderchefs eine Übersicht zu den Rechtsfragen vor. Ob es zu Entscheidungen komme, könne er nicht vorhersagen. Mögliche Umsetzungen könnte der Bund mit der neu im Infektionsschutzgesetz eingeführten Ermächtigung für Verordnungen treffen – mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.

In Deutschland sind Stand heute 22,2 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal gegen das Corona­vi­rus geimpft, wie das Impfquotenmonitoring des RKI zeigt. So verabreichten alle Stellen bislang etwa 24,3 Millionen Impfungen, wovon knapp 18,5 Millionen Erstimpfungen und weitere gut 5,8 Millionen Zweit­impfungen waren. Demnach stieg die Quote der vollständig Geimpften leicht auf sieben Prozent. Vorgestern wurden 606.283 Impfungen gespritzt.

Alle Bundesländer sind bei den Erstimpfungen mittlerweile über die 20-Prozent-Marke gekommen. Die höchste Quote haben Bremen und das Saarland mit 24,7. Hessen liegt mit 20,2 Prozent noch leicht zu­rück. Den höchsten Anteil an Zweitimpfungen kann Thüringen mit 8,9 Prozent vorweisen.

95,3 Prozent der 25,5 Millionen bis vergangenen Sonntag gelieferten Impfungen wurden bis Donnerstag gespritzt. Den größten Anteil macht das Präparat „Comirnaty“ von Biontech/Pfizer mit rund 17,6 Millio­nen Dosen aus. Von Vaxzevria – dem Präparat von Astrazeneca – wurden fast sechs Millionen Dosen geliefert und weitere etwa 1,9 Millionen Dosen von Modernas „COVID-19-Vaccine“.

Die Impfkampagne in Deutschland hat Ende vergangenen Jahres begonnen. Zunächst waren Menschen über 80, Bewohner von Alten- und Pflegeheimen und medizinisches Personal an der Reihe. Unter ande­rem werden auch chronisch Kranke mit erhöhtem Risiko für einen schweren und tödlichen Verlauf be­vorzugt geimpft.

dpa/afp/may

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