Politik

Coronamaßnahmen: Verschärfungen beschlossen, weitere könnten folgen

  • Donnerstag, 15. Oktober 2020
Bundeskanzlerin Angela Merkel /picture alliance, ASSOCIATED PRESS, Stefanie Loos
Bundeskanzlerin Angela Merkel /picture alliance, ASSOCIATED PRESS, Stefanie Loos

Berlin – Mit härteren Auflagen hoffen Bund und Länder den rasanten Anstieg der Infek­tionszahlen insbesondere in deutschen Risikoregionen einzudämmen. Zugleich stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach ihrem Treffen mit den Ministerpräsidenten gestern am späten Abend mögliche weitere Verschärfungen in Aussicht.

„Wir reden von Kontaktbeschränkungen“, sagte Merkel dazu. Man müsse jetzt sehen, ob etwa die Sperrstunde 23 Uhr richtig sei, oder ob man sie bei 22 Uhr machen müsse. „Da muss da nachgeschärft werden.“

Die Zahl der bestätigten Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Deutschland stieg auf einen Rekordwert. Die Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert Koch-Instituts von heute Morgen 6.638 Neuinfektionen binnen eines Tages – rund 1.500 mehr als am Vortag.

Bislang waren Ende März mit knapp 6.300 Neuinfizierten die meisten registriert worden. Allerdings sind die jetzigen Werte nicht mit denen aus dem Frühjahr vergleichbar, weil mittlerweile wesentlich mehr getestet wird und damit auch mehr Infektionen entdeckt werden.

Gestern hatten sich Bund und Länder nach zähem Ringen und achtstündigen Verhandlun­gen darauf geeinigt, die Schwelle für strengere Maßnahmen in deutschen Coronahoch­burgen zu senken.

Diese sollen bereits ab 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner bin­nen sieben Tagen greifen statt bisher bei 50. So soll dort die Maskenpflicht ausgeweitet werden, die Gäste­zahl bei privaten Feiern weiter begrenzt und eine Sperrstunde für die Gastronomie ein­geführt werden.

Der Anstieg von 35 auf 50 passiere schnell, warnte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU): „Und deswegen ändern sich die Dinge in Tagen und nicht in Wochen.“ Er sei sich nicht sicher, ob die getroffenen Beschlüsse ausreichten.

Auch der Hauptgeschäfts­füh­rer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, warnte: „Wir kommen er­kennbar in die Gefahr, dass die Pandemie aus dem Ruder läuft.“ Der Fokus auf Risikogebiete sei richtig, sagte er der Rheinischen Post.

Mehrere Spitzenpolitiker warnten nach dem Treffen vor einem Kontrollverlust im Umgang mit dem Virus. Merkel zeigte sich beunruhigt über einen exponentiellen Anstieg der In­fektionszahlen. „Den müssen wir stoppen. Sonst wird es in kein gutes Ende führen.“

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) betonte, er wisse, was man den Menschen zumute, fragte aber auch: „Was können wir eigentlich noch tun, um jedem be­greiflich zu machen: Wir sind in einer weltweiten Krise? Und in einer weltweiten Krise gibt es Einschränkungen, und die können erheblich dramatischer sein, als das was wir bisher miteinander beschlossen haben.“

Dringlich appellierten Bund und Länder an die Menschen in Deutschland, nun nicht er­forderliche innerdeutsche Reisen in Risikogebiete hinein und aus ihnen heraus zu ver­meiden.

Kanzleramtsminister Helge Braun rief die Bevölkerung dazu auf, mehr zu tun als nun von Bund und Ländern vereinbart. Die Beschlüsse seien ein wichtiger Schritt, würden aber vermutlich nicht ausreichen, sagte der CDU-Politiker heute im ARD-„Morgenmagazin“

„Und deshalb kommt's jetzt auf die Bevölkerung an. Dass wir nicht nur gucken: Was darf ich jetzt? Sondern wir müssen im Grunde genommen alle mehr machen und vorsichtiger sein als das, was die Ministerpräsidenten gestern beschlossen haben.“

Es könne jetzt überhaupt keine Frage mehr geben, „dass das jetzt der Beginn einer sehr großen zweiten Welle ist“, führte Braun aus. „Und am Anfang dieser zweiten Welle haben wir es in der Hand, diese Infektionen aufzuhalten.“ Er warnte, wenn die Infektionen hochgingen, leide am Ende auch die Wirtschaftskraft.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) appelliert an die Bevölkerung, die ver­schärf­ten Schutzmaßnahmen wegen der sprunghaft gestiegenen Infektionszahlen mitzu­tragen. „Wir haben es selbst in der Hand, diese Entwicklung zu stoppen“, sagte er im Deutschlandfunk.

Spahn betonte, Ziel sei es, die Pandemie in eine zu bewältigende Größenordnung zu bringen, „damit Schule und Kita und Einzelhandel geöffnet bleiben können“. Gelinge dies, seien keine weiteren Verschärfungen oder gar ein zweiter Lockdown nötig, schätzte er.

Das beschlossene Stufenmodell, wonach auch bei durchschnittlich 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen schon Einschränkungen etwa bei privaten Fei­ern gelten können, sei ein wichtiger Schritt nach vorn, sagte Spahn. „Es ist nicht nur die Großveranstaltung. Es ist auch das gesellige Zu-Hause-Sein.“

Der Gesundheitsminister betonte, heute werde entschieden, ob Weihnachten „in gewohn­ter Weise stattfinden kann, oder ob wir eine Situation haben werden wie an Ostern, (...) wo wir empfehlen mussten, nicht die Verwandtschaft zu besuchen“. „Das würde ich ei­gentlich gerne vermeiden wollen.“

Angesprochen auf die Skepsis Merkels, ob die Maßnahmen ausreichen, meinte er: „Das werden wir in den nächsten Tagen sehen. Was ich wichtig finde: Wir alle können jeden Tag einen Unterschied machen.“ Diejenigen, die sich nicht an die neuen Regeln hielten, müssten aber mit Konsequenzen rechnen – „zum Teil auch mit empfindlichen Strafen“.

Mit Blick auf das umstrittene Beherbergungsverbot, zu dem es noch keine abschließende Einigung unter den Länderchefs gibt, sprach sich Spahn für ein regional abgestimmtes Vorgehen aus.

Es sei „ohne Zweifel so“, dass eine Nichtunterbringung von Menschen aus Risikogebieten wenig akzeptiert werde. Nötig sei ein einheitlicher Rahmen, der sich aber an die lokale Lage anpassen lasse: „In Regionen mit hohen Infektionszahlen müssen Maßnahmen er­griffen werden.“

Oppositionspolitiker kritisieren fortgesetzten Flickenteppich

Die Opposition im Bund reagiert unzufrieden auf die Bund-Länder-Beschlüsse. „Dass die Infektionszahlen weiter ansteigen werden, ist absehbar, dennoch schaffen es Bund und Länder trotz Notlage nicht, an einem Strang zu ziehen", erklärte der Linken-Gesundheits­experte Achim Kessler.

„Die aktionistische Willkür von unterschiedlichen, teils unwirksamen Maßnahmen wie Beherbergungsverboten oder Sperrstunden bei gleicher Infektionslage ist jedoch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Corona-Maßnahmen an sich ablehnen“, warnte er.

Anstoß an den weiterhin uneinheitlichen Beherbergungsverboten sowie Beschränkungen für die Gastronomie nahm auch der FDP-Tourismusexperte Marcel Klinge. „Unverhältnis­mäßige Sperrstunden und der weiterhin bestehende Flickenteppich bei den unnötigen Beherbergungsverboten werden nichts bringen, wenn nicht einmal die lange bekannten Regeln zum Social Distancing um- und auch durchgesetzt werden“, erklärte er.

Es würden nun „wieder einmal die regelkonform handelnde Hotellerie und Gastronomie sowie alle Bürger, die sich an die Regeln halten“, für Fehlverhalten von Teilen der Bevöl­kerung bestraft. Das sei nicht richtig, urteilte Klinge.

Auch die rechtspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Katja Keul, kriti­sier­te, dass sich Bund und Länder nicht auf ein einheitliches Vorgehen beim Thema Beher­bergungsverbot einigen konnten. „Eine Vertagung dieser Entscheidung scheint mir in Anbetracht der aktuellen Infektionsentwicklung eher unklug“, sagte sie dem Handelsblatt.

„Wir sind für die nächsten Wochen mehr denn je auf die Akzeptanz der notwendigen Maß­­­n­ah­men in der Bevölkerung angewiesen“, betonte Keul. „Umso wichtiger wäre es, das Vertrauen in die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Maßnahmen zu stärken.“

AfD-Fraktionsvize Sebastian Münzenmaier erklärte, die Vertagung des Themas Beherber­gungsverbote sei „ein Skandal“. Veranstalter, Gastronomen und die ganze Tourismuswirt­schaft zahlten nun die Zeche.

Gericht kippt Beherbergungsverbot in Baden-Württemberg

Unterdessen hat heute der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg mit Beschluss von gestern einem Eilantrag gegen das Beherbergungsverbot in dem Bundesland statt­ge­geben. Dieses gilt bislang für Gäste aus deutschen Regionen, in denen 50 oder mehr neue Coronafälle pro 100.000 Einwohner binnen 7 Tagen registriert wurden.

Die Antragsteller kommen aus dem Kreis Recklinghausen in Nordrhein-Westfalen, der über dieser Marke liegt. Sie hatten einen Urlaub im Kreis Ravensburg gebucht. Das Be­her­bergungsverbot ist in Baden-Württemberg damit vorläufig mit sofortiger Wirkung au­ßer Vollzug gesetzt, wie das Gericht in Mannheim mitteilte. Es können keine Rechtsmittel eingelegt werden.

Das Gericht sah den Einschnitt in das Grundrecht auf Freizügigkeit als unverhältnismäßig an. Das Land habe auch nicht darlegen können, dass Hotels und Pensionen „Treiber“ des Infektionsgeschehens seien, so dass drastische Maßnahmen nötig seien. Es sei den An­trag­stellern auch nicht zumutbar, bis zu 48 Stunden vor Ankunft genommene negative Coronatests vorzulegen. Man könne nicht gewährleisten, dass Reisende in so kurzer Zeit einen Coronatest erlangen könnten (Az. 1S3 3156/20).

Auch das niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat das Beherbergungsverbot des Landes für Reisende aus deutschen Coronahotspots in einem Eilverfahren für rechts­wi­drig erklärt. Der Beschluss sei unanfechtbar, teilte das Gericht in Lüneburg mit. Geklagt hatte der Betreiber eines Ferienparks.

dpa/afp/kna/may

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