Politik

Deutscher Ethikrat hält Corona-­Immunitätsbescheinigungen derzeit nicht für sinnvoll

  • Dienstag, 22. September 2020
Alena Buyx (r), Vorsitzende Deutscher Ethikrat, Steffen Augsberg (M), Sprecher der Arbeitsgruppe Tierethik im Deutschen Ethikrat, und Sigrid Graumann (l), Mitglied im Deutschen Ethikrat. /picture alliance, Bernd von Jutrczenka
Alena Buyx (r), Vorsitzende Deutscher Ethikrat, Steffen Augsberg (M), Sprecher der Arbeitsgruppe Tierethik im Deutschen Ethikrat, und Sigrid Graumann (l), Mitglied im Deutschen Ethikrat. /picture alliance, Bernd von Jutrczenka

Berlin – Einstimmig rät der Deutsche Ethikrat von einer Einführung von Immunitätsbe­schei­nigungen bezüglich einer Infektion mit SARS-CoV-2 zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab.

Angesichts der vielfältigen noch bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der Ausprä­gung und des zeitlichen Verlaufs einer Immunität und einer Infektiosität sowie der Aussagekraft von Antikörpertests gegen SARS-CoV-2 sei der Einsatz von Immunitäts­bescheinigungen derzeit nicht zu empfehlen, sagte Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, heute. Vielmehr sei es notwendig, auf andere Maßnahmen eines effektiven Infektionsschutzes zu setzen.

Zum jetzigen Zeitpunkt sei nicht abschließend geklärt, ob – beziehungsweise in welchem Umfang – nach überstandener Infektion mit SARS-CoV-2 Immunität ausgebildet wird. Aussagekräftige Studien zum zeitlichen Verlauf und zur Ausprägung einer schützenden Immunantwort beim Menschen lägen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor, erklärte die Ärztin und Medizinethikerin.

Der Erkenntnisfortschritt sei zwar rapide, dennoch seien Annahmen über eine Immunität gegenüber SARS-CoV-2 derzeit grundsätzlich mit Unsicherheit verbunden. Buyx betonte ferner, dass die heute vorgelegten Empfehlungen des interdisziplinär besetzten Rates nicht für eine Immunität nach einer möglichen künftigen Impfung gelten würden. Dieser arbeite innerhalb einer Arbeitsgruppe weiter an Fragen, die die Pandemie betreffen.

Um die sachliche Aufarbeitung des Themas „Immunitätsbescheinigung“ hatte die Politik den Deutschen Ethikrat gebeten: Bereits seit Monaten wird die Einführung einer staatlich kontrollierten Immunitätsbescheinigung gesellschaftlich kontrovers diskutiert.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte das Vorhaben ursprünglich im 2. Pandemiegesetz verankern, hatte es nach Protesten jedoch auf Eis gelegt und Ende April den Ethikrat eingeschaltet, um die ethischen Konsequenzen eines solchen Ausweises überprüfen zu lassen.

Befürchtungen einer Zwei-Klassen-Gesellschaft

Kritiker befürchteten, dass durch den Immunitätsausweis eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen könnte: Menschen, die von Corona genesen sind, dürften Partys feiern. Dieje­nigen, die sich an alle Regeln gehalten haben und noch nicht erkrankt sind, dürften das nicht. Datenschützer warnten zudem, dass Arbeitgeber oder Versicherungen künftig Immunitätsnachweise verlangen könnten.

All diesen Chancen und Risiken ging der Deutsche Ethikrat nach und bewertete sie in seiner Stellungnahme. Für ihn ist dabei zwar unstrittig, dass aktuell eine Einführung von Immunitätsbescheinigungen nicht empfohlen werden kann.

Zwei Positionen für künftige Entwicklungen

Ein völlig einheitliches beziehungsweise ein Kompromissvotum gibt es jedoch nicht: Uneinig sind sich die 24 Mitglieder des Rates darin, ob und – wenn ja – unter welchen Bedingungen die Einführung von Immunitätsbescheinigungen für den Fall zu empfehlen ist, wenn zukünftige Erkenntnisse bezüglich der Immunität und der Infektiosität vorliegen.

Die Hälfte der Ratsmitglieder (Position A) – zu der auch Alena Buyx gehört – kommt auf Basis risikoethischer Abwägungen zu dem Ergebnis, dass bei günstiger Entwicklung der naturwissenschaftlich-medizinischen Voraussetzungen mindestens eine stufenweise, befristete, anlassbezogen wie bereichsspezifisch ansetzende Einführung einer Immuni­täts­bescheinigung unter bestimmten Bedingungen sinnvoll wäre. Teilweise wird auch ein weiterreichender Einsatz für verantwortbar erachtet.

Den Überlegungen dieser Gruppe läge der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugrunde, sagte Carl Friedrich Gethmann, Sprecher der Arbeitsgruppe Immunitätsbescheinigung und Angehöriger der Position A innerhalb des Rates. Dieser Grundsatz und risikoethische Erwägungen verlangten, dass grundgesetzlich garantierten Freiheiten, die pandemie­bedingt eingeschränkt werden, so weit wie möglich den Bürgerinnen und Bürgern zurückgegeben werden.

„Das bedeutet, dass unter Umständen Risiken hinzunehmen sind, wie sie auch sonst im klinisch-medizinischen Kontext und in vielen anderen Lebensbereichen akzeptiert werden“, betonte er.

Für die andere Hälfte der Ratsmitglieder (Position B) führen praktische, ethische und rechtliche Gründe zu einer Ablehnung des Einsatzes von staatlich kontrollierten Immunitätsbescheinigungen selbst dann, wenn Unsicherheiten mit Blick auf den Sach­stand in Zukunft nicht länger bestünden. Insbesondere ist diese Gruppe skeptischer, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu einer hinreichend lange anhaltenden und verlässlichen Immunität bei allen, auch asymptomatisch Infizierten, führt.

„Infolgedessen ist Position B deutlich zurückhaltender bezüglich der Bereitschaft, Gesund­heitsgefährdungen für die Allgemeinheit und insbesondere für vulnerable Gruppen in Kauf zu nehmen, die vom Einsatz von Immunitätsbescheinigungen ausgehen könnten“, erklärte Judith Simon, Vertreterin dieser Gruppe.

Ihres Erachtens gibt es nur einen Bereich, in dem ein hinreichend sicherer Nachweis von Immunität zur individuellen Rückgewähr von Freiheit genutzt werden dürfte: Zugunsten besonders vulnerabler Gruppen, etwa in Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe.

Nahestehende Personen, aber auch Seelsorger oder Hospizdienste sollten auf Grundlage gesicherter Kenntnis über ihre Immunität und Nichtinfektiosität von bestimmten Aufla­gen befreit werden, meint sie. „Hierfür ist allerdings keine staatliche Immunitäts­bescheinigung erforderlich“, sagte Simon. Ausreichend seien auch aktuelle PCR-Tests.

Simon führte auch zudem praktische Gründe für die weitgehende Ablehnung von Immuni­tätsbescheinigungen an: Angesichts der immer noch vergleichsweise geringen Fallzahlen, verbunden mit der geringen Dauer einer möglichen Immunität, sei es illusorisch anzunehmen, dass der Einsatz von Immunitätsbescheinigungen einen relevan­ten Effekt auf die Erholung der Wirtschaft oder die Versorgungslage im Sozial- und Gesundheitssystem hätte.

„Die Einführung von Immunitätsbescheinigungen könnte jedoch Fehlanreize setzen, welche die derzeitige Strategie konterkarieren könnten“, warnte sie. So könnten sich Personen, etwa aus wirtschaftlicher Not oder um sich individuelle Vorteile zu sichern, mutwillig Infektionsrisiken aussetzen. Gerade in Arbeitsfeldern mit prekären Arbeits­bedin­gungen und/oder besonderen Infektionsrisiken wäre dies eine gleichermaßen gefährliche wie ungerechte Konsequenz.

Bevölkerung muss umfassend informiert werden

Ungeachtet dieser unterschiedlichen Positionierungen spricht sich der Ethikrat in weite­ren gemeinsamen Empfehlungen dafür aus, die Bevölkerung umfassend über einen gemeinwohlorientierten Infektionsschutz aufzuklären. Die Aufklärung sollte mit dem Appell verbunden werden, stets auch den Mitmenschen und das Gemeinwohl im Blick zu haben, betonte Buyx.

Zudem fordert der Rat die Regierung auf, eine zielgerichtete und koordinierte Erfor­schung der infektiologischen und immunologischen Eigenschaften des neuartigen Coronavirus zu intensivieren. Entsprechende medizinische Forschung sei zu unterstützen und voranzutreiben, um Entstehung, Dauer und Verlauf einer Immunität gegen SARS-CoV-2 besser zu verstehen sowie die Zusammenhänge zur Infektiosität nachvollziehbar zu ergründen.

Darüber hinaus sollte die Bevölkerung umfassend über die derzeit fragwürdige Aussage­kraft von Antikörpertests informiert werden, beispielsweise durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Frei verkäuflichen Tests zum Nachweis einer Immunität gegen SARS-CoV-2 stehen die Ratsmitglieder sehr skeptisch gegenüber. Aufgrund ihrer zweifelhaften Verlässlichkeit und des daraus folgenden Gefährdungspotenzials sollten sie nach ihrer Ansicht strenger reguliert werden.

ER

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