Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung: Bundestag kommt nicht voran

Berlin – Anfang des Jahres hatte der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ dem Bundestag seine Empfehlungen für eine gesunde Ernährung vorgelegt. Seitdem ist nicht viel passiert. Ihren Unmut machten rund 30 Mitglieder des Bürgerrats deshalb jetzt in einem Brief an Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages, deutlich.
Es sei selbstverständlich, dass nicht alle Empfehlungen zeitnah übernommen und umgesetzt werden könnten, heißt es in dem Brief, der dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt. „Sollte jedoch keine der neun Empfehlungen aufgegriffen und realisiert werden, so würde dies das Vertrauen in das Instrument und allgemein die Demokratie beschädigen“.
Die Empfehlungen seien anfangs mit einer hohen Wertschätzung der Abgeordneten quittiert worden, schreibt der Bürgerrat. Seitdem hätten zwar einige Anhörungen stattgefunden, unter anderem zu einem Mittagessen für alle Kinder in Kindertagesstätten und Schulen sowie zur alterseingeschränkten Abgabe von Energydrinks, zu Ergebnissen sei es jedoch noch nicht gekommen.
„Frau Bundestagspräsidentin, uns interessiert hierzu ihre Meinung“, fordert der Bürgerrat die Bundestagspräsidentin auf. Eine Antwort steht bislang noch aus. „Wir haben gelernt, geduldig zu sein“, heißt es dazu vom Bürgerrat auf Nachfrage.
„Der Bürgerrat braucht eine Antwort, das ist unabdingbar“, bekräftigte Hermann Färber (CDU), Vorsitzender des Ernährungsausschusses, kürzlich während einer Plenarsitzung, in der ein Antrag der Gruppe Die Linke zu einem kostenfreien Mittagessen debattiert wurde – ein Antrag, der der wichtigsten Empfehlung des Bürgerrats ähnelt.
„Die haben verdient, dass sie im Lauf dieses Jahres eine Antwort bekommen, wie mit ihren Empfehlungen weiter verfahren werden soll“, so Färber.
Verpflichtendes staatliches Label für Lebensmittel diskutiert
Über die Empfehlung des Bürgerrats, ein verpflichtendes staatliches Label auf Lebensmitteln einzuführen, wurde gestern in einem Fachgespräch im Bundestag diskutiert. Vertreten waren der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, Mitglieder des Bürgerrats und dessen wissenschaftlicher Beirat sowie Experten aus dem Bereich Ernährung.
Mit rund 89 Prozent hatte der Bürgerrat dafür gestimmt, dass im Bundestag über ein verpflichtendes staatliches Label für alle in Deutschland und der Europäischen Union verkauften Produkte diskutiert werden soll. Die Empfehlung wurde nach einem kostenfreien Mittagessen für alle Kinder in Kitas und Schulen als besonders wichtig erachtet.
Für Verbraucher soll mit dem Label schnell erkennbar sein, ob ein Lebensmittel unbedenklich ist. Es soll das bewusste Einkaufen gesünderer und klimafreundlicher Nahrung erleichtern, das Gesundheitsbewusstsein fördern und die Wertschätzung für Lebensmittel steigern.
Das Zeichen soll den Empfehlungen nach einfach gestaltet sein und von einer Informationskampagne begleitet werden, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu steigern. Eine wissenschaftliche Fundierung und Begleitung soll zusätzliches Vertrauen schaffen.
Bei der Vergabe des Labels soll vor allem auf die Bereiche Klima, Tierwohl und Gesundheit Rücksicht genommen werden. Dazu zählen beispielsweise Aspekte wie die Schonung von Ressourcen und Artenvielfalt, die Orientierung an Tierwohllabels und die Höhe des Zucker-, Salz- und Fettgehalts der Lebensmittel sowie deren Verarbeitungsgrad.
Bewertungen unterschiedlich
Die Beurteilung der Empfehlung fiel im Fachgespräch sehr unterschiedlich aus. Während Vertreter von Lebensmittelproduzenten, -händlern und -anbietern dem Label eher kritisch gegenüberstanden, sahen Vertreter von Verbrauchern und Wissenschaft vor allem Vorteile und Möglichkeiten für nachhaltigere Produkte. Demnach könnte das Label insbesondere eine Chance für Verbraucher bieten.
Sei das Logo einfach gehalten und enthalte nicht zu viele Informationen, könnten Verbraucher auf einen Blick erkennen, wie das Produkt einzuordnen sei und sich bewusst für ein gesundes Lebensmittel entscheiden, sagte Carsten Demming, stellvertretender Studiendekan BWL-Food Management und Leiter des Forschungsteams VereNa an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
Zudem könnte das Label einen Anreiz für Unternehmen bieten, ihre Produkte entsprechend zu verbessern. Dadurch wären langfristig betrachtet mehr nachhaltige Lebensmittel auf dem Markt zu finden und die Branche für die Zukunft gerüstet, sagte Carolyn Hutter, Studiengangleiterin BWL-Food Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
Indirekte Effekte könnten in dieser Hinsicht schon beim Nutri-Score beobachtet werden, sagte Demming. Neben kleineren Unternehmen habe ein bekannter Tiefkühlpizzahersteller seine Rezeptur beispielsweise verändert, um einen besseren Wert zu erzielen und konkurrenzfähig zu bleiben.
Christiane Seidel von der Verbraucherzentrale Bundesverband machte darauf aufmerksam, dass Verbraucher in der Realität häufig am „Siegeldschungel“ auf Lebensmitteln scheitern würden, wenn sie sich gesünder ernähren und auf derartige Kennzeichnungen achten wollten. Ein einheitliches, gut erkennbares Logo sei deshalb unterstützenswert.
Es müsse nur darauf geachtet werden, dass sich das Label an konkreten Anforderungen orientiere und wissenschaftliche Kriterien berücksichtigt werden, auf die die Verbraucher vertrauen könnten, so Seidel. Eine Möglichkeit sei auch, den Siegeldschungel zunächst einmal zu bereinigen und ein einheitliches Label im zweiten Schritt einzuführen.
Hutter sagte, dass es wichtig sei, dass das Label im Vorfeld von einer Informationskampagne begleitet werde. Demming ergänzte, dass es entsprechende Erklärungen geben müsse, damit auch Menschen mit wenig Vorwissen verstehen würden, was das Zeichen zu bedeuten habe und gesunde Entscheidungen treffen könnten.
Lena Hennes, Senior Researcherin am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, sah bei der Abbildung des Klimaschutzes im Label einige Schwierigkeiten. Die Aspekte Tierwohl und Gesundheit würden schon jetzt berücksichtigt und könnten einfach umgesetzt werden, der Klimaschutz beinhalte jedoch verschiedene Dimensionen, die sich nicht so einfach abbilden ließen.
Hennes gab zu bedenken, dass die Emissionen von Lebensmitteln teils erheblich schwanken würden, sodass das Label immer wieder neu angepasst werden müsste. Eine Möglichkeit sei möglicherweise, Durchschnittswerte zu verwenden.
Es komme darauf an, wie die Klimaschutzvorgaben für das Label definiert werden, sagte Manon Struck-Pacyna, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit beim Lebensmittelverband Deutschland. Ein Lebensmittel könne beispielsweise gesund sein, aber einen langen Anreiseweg hinter sich haben.
Wie diese Informationen zusammen mit den anderen Aspekten in einem Label abgebildet werden könnten, sei fraglich. „Wir halten dies für eine Überforderung sowohl der Verbraucherinnen und Verbraucher beim Verständnis als auch der Wissenschaft und Wirtschaft bei der Erarbeitung und Umsetzung“, sagte sie.
Aus Sicht des Handels sei es nahezu unmöglich, alle drei Kategorien in einem Label zusammenzuführen, kritisierte Christian Mieles, Geschäftsführer des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels. Die Verbraucher hätten zudem unterschiedliche Interessen und achteten auf unterschiedliche Kennzeichnungen, die ihnen wichtig seien.
Mit der Einführung eines neuen Labels würde zudem der bürokratische Aufwand weiter steigen, sagte Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbandes. Sie zeigte sich generell zwar aufgeschlossen, plädierte aber für ein freiwilliges Label. Wenn Gäste oder Kunden nachfragen würden, lohne sich die Einführung des Labels, wenn nicht, sei die Einführung für ihre Branche eher kontraproduktiv.
Moritz Hagenmeyer, Rechtsanwalt und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bürgerrats, machte deutlich, dass es aus europarechtlicher Sicht derzeit keine Möglichkeit gebe, ein derartiges Label zu beschließen. Die Vorgaben auf EU-Ebene seien sehr streng. Die Überwachung des Labels sei eine weitere ungeklärte Frage, die sich stelle.
Die Empfehlung wird in einem nächsten Schritt zur Diskussion an die Ausschüsse überwiesen.
Der 160-köpfige Bürgerrat hatte in Präsenz- und Onlinesitzungen darüber debattiert, wie sich Deutschland gesünder und nachhaltiger ernähren kann. Unter anderem wurde darüber diskutiert, welche Rolle der Staat in Bezug auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll.
Die Mitglieder des Bürgerrates waren über eine „Bürgerlotterie“ zufällig ermittelt worden. Sie kommen aus 62 Städten und Gemeinden in ganz Deutschland und bilden in Bezug auf Merkmale wie Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund einen Querschnitt der deutschen Bevölkerung.
Die Einsetzung des Rates hatte der Bundestag mit Stimmen der Ampelkoalition und der Linken am 10. Mai 2023 beschlossen. Der Rat hat seine Arbeit Ende September 2023 aufgenommen und binnen weniger Monate ein „Bürgergutachten“ mit Handlungsempfehlungen erarbeitet.
Die gemeinsam formulierten Empfehlungen wurden abschließend priorisiert und abgestimmt. Sie sollen nun nacheinander im Bundestag diskutiert werden. Es besteht keine Verpflichtung, dass die Vorschläge umgesetzt werden.
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