Experten drängen auf mehr Hilfen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern

Berlin – Jedes vierte Kind in Deutschland hat ein Elternteil mit einer psychischen oder einer Suchterkrankungen. Diese Kinder besser zu unterstützen, ist das Ziel eines gemeinsamen Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP (20/12089). Dieser Antrag stieß bei den Sachverständigen einer öffentlichen Anhörung des Familienausschusses des Bundestages gestern auf großen Zuspruch.
Die Abgeordneten drängen in dem Antrag die Bundesregierung unter anderem auf, eine Empfehlung der interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit psychisch kranken Eltern umzusetzen.
Die Empfehlung besagt dem Antrag zufolge, gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme zu erstellen.
Außerdem soll dem Antrag zufolge das Präventionsgesetz mit Blick auf die Förderung der seelischen Gesundheit, auf Familienorientierung und die Belange von Kindern mit psychisch oder suchtkranken Eltern sowie auf eine Stärkung der Verhältnisprävention bei Suchtmitteln insgesamt weiterentwickelt werden. Eine dauerhafte Erhöhung der Mittel des Fonds Frühe Hilfen soll demnach geprüft werden, damit ein bedarfsorientiertes Angebot bundesseitig flächendeckend gewährleistet werden kann.
Die Fraktionen fordern ferner, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu erweitern, um aufsuchende psychotherapeutische Versorgung bedarfsorientiert auch in Kitas und Schulen anzubieten, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass die therapeutische Versorgung das Kind erreicht.
„Die im Antrag geforderte stärkere sektorübergreifende Zusammenarbeit ist ein zentraler Baustein, um Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil umfassend zu helfen. Kooperationen zwischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten und der Jugendhilfe sollten schon möglich sein, bevor eine Kindeswohlgefährdung festgestellt wird“, sagte Cornelia Metge, vom Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer. Darüber hinaus seien auch Möglichkeiten zu aufsuchender Psychotherapie in Kitas und Schulen entscheidend, um Kinder und Jugendliche besser zu erreichen.
Beate Ditzen, Professorin am Institut für Medizinische Psychologie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg, wies darauf hin, dass die Folgen psychischer Erkrankungen und Suchterkrankungen von Eltern nicht nur die Erkrankten selbst beträfen.
„Die Forschung ist hier völlig klar. Die Folgen wirken unmittelbar auf das familiäre Zusammenleben und über Generationen hinweg über das Verhalten und die Lebenssituation hinaus auch über biologische Faktoren auf die Kinder.“ Die einzige realistische Möglichkeit, die es gebe, liege in der Zusammenarbeit der Versorgungseinrichtungen.
Die Psychotherapeutin zog den Bericht der Lancet Psychiatry Commission on Youth Mental Health heran, der eine dramatischen Krise weltweit in Bezug auf die psychische Gesundheit von Heranwachsenden ausgemacht hat. Die Zahlen psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben seit der Coronapandemie zugenommen. „Diese Krise muss zum Anlass genommen werden, bestehende Strukturen zu verstärken vor allem in Bezug auf die Intensivierung der Zusammenarbeit, sagte sie.
Psychisch belasteten Eltern werde oft Erziehungsunfähigkeit und Kindeswohlgefährdung unterstellt, sagte Tina Lindemann vom Dachverband Gemeindepsychiatrie. Sie dürften jedoch keinesfalls noch zusätzlich in ihrer Elternrolle stigmatisiert werden. Es sei die Entstigmatisierung, die zu einer frühzeitigen Inanspruchnahme professioneller Hilfen führe, sagte sie und forderte daher nachhaltige Entstigmatisierungskampagnen unter partizipativem Einbezug der Betroffenen.
Stephan Osten vom Bundesverband für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bewertete eine dauerhafte Erhöhung der Mittel für die Frühen Hilfen als „essenziell“. Der Ausbau von Lotsendiensten und die Entwicklung verlässlicher Übergangskonzepte, etwa zwischen Frühen Hilfen und weiteren familienorientierten Angeboten, sollten aus seiner Sicht prioritär behandelt werden.
Die Vernetzung von Schule, Jugendhilfe und Gesundheitssystem müsse verbessert werden, forderte Osten und kritisierte, dass die Einbeziehung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Prozesse der Jugendhilfe nicht honoriert werde. Notwendig seien auch niedrigschwellige Zugänge für die betroffen Kinder und Jugendlichen, mehr Schulpsychologen sowie Mental Health Couches an Schulen.
Heide Mertens vom Sozialdienst katholischer Frauen plädierte für eine Absicherung und den Ausbau der Finanzierung der Frühen Hilfen sowie die Prüfung der Ausdehnung auf das 6. Lebensjahr. Zudem sei eine Kooperation und Verbindung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Gesundheitssystems dringend im ambulanten und stationären Bereich erforderlich.
Die Sachverständige wies darauf hin, dass Mutter-Vater Kind-Kuren stark belastete Familien oft nicht erreichen würden, obwohl solche Kuren Wirkung zeigten. Die Antragstellung sei für diese Familien oftmals zu kompliziert. Sie forderte einen gesetzlichen Anspruch auf Kurberatung.
Katharina Lohse vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, das die Jugendämter in Rechtsfragen berät, befürwortete die im Antrag enthaltene Forderung nach einer gesetzlichen Ausweitung der Leistung auf Familien mit Kindern über 14 Jahren ausdrücklich. Auch Familien mit älteren Kindern könnten im Fall einer psychischen Erkrankung oder einer Suchterkrankung einen Unterstützungsbedarf haben.
Für überlegenswert hält sie auch, Berufsgeheimnisträger wie Ärzte und Psychotherapeuten bereits bei einem Unterstützungsbedarf der Kinder zu verpflichten, Informationen an das Jugendamt weiterzugeben.
Die in dem Antrag geplante aufsuchende psychotherapeutische Versorgung an Kitas und Schulen hält sie für sinnvoll. Darüber hinaus sollte darüber nachgedacht werden, ob Jugendliche nicht ohne Zustimmung der Eltern psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können sollten.
Auch Juliane Tausch von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ begrüßte den fraktionsübergreifenden Antrag. Kinder psychisch- und suchterkrankter Eltern seien darauf angewiesen, dass Menschen in Kita, Schule, Ausbildung und Freizeit ihre besondere Belastungslage wahr- und ernstnehmen. „Sie dürfen mit ihren Nöten und Sorgen um ihre Eltern nicht allein sein“, sagte sie. Geschulte Fachkräfte seien notwendig, „denn Prävention in Lebenswelten passiert nicht von allein.“
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